Der Paritätische Gesamtverband hat 2022 zum Jahr der Gemeinnützigkeit ausgerufen. Julia Bousboa vom Paritätischen Landesverband Schleswig-Holstein sprach mit Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes, über die aktuelle Situation in gemeinnützigen Organisationen und bürgerschaftliches Engagement.

Herr Schneider, wie steht es um die Gemeinnützigkeit in Deutschland?

Gut sieht es aus: über 600.000 gemeinnützige Vereine mit über 50 Millionen Mitgliedern, über 24.000 Stiftungen. Dazu kommt eine große Zahl an gemeinnützigen GmbHs und Genossenschaften. Und alle Zahlen gehen nach oben.

Wie hat sich die Coronapandemie auf diese Organisationen ausgewirkt, was ist seit 2020 vielleicht erst zutage getreten?

Der gemeinnützige Bereich lebt – anders als der gewerbliche – sehr stark vom Ehrenamt. Als im Frühjahr 2020 beispielsweise plötzlich ehrenamtliche Tafeln oder Hilfsdienste für Ob- dachlose schließen mussten, ohne dass staatliche oder gewerbliche Alternativen zur Verfügung standen, wurde, glaube ich, schlagartig allen in diesem Lande deutlich, wie wichtig die gemeinnützigen Organisationen mit ihrem bürgerschaftlichen Engagement für diese Gesellschaft sind. Sie sind kein Add-on, kein nettes Beiwerk, sondern fester Bestandteil unserer Infrastruktur, von Besuchsdiensten in Kranken- häusern und Pflegeheimen bis hin zu der Arbeit der DLRG oder des ASB.

Was unterscheidet gemeinnützige und gewerbliche Trägerschaften und warum sollten erstere Vorrang haben?

Die Gemeinnützigkeit bedeutet im Kern den Verzicht auf private Gewinnentnahme. Wer gemeinnützig unterwegs ist, dem oder der geht es nicht darum, möglichst viel Geld zu machen. Wer gemeinnützig ist, handelt aus anderen Motiven. Es geht um das Gemeinwohl und es geht darum, dass Bürger*innen ihr Gemeinwesen selbst gestalten wollen. Sie wollen nicht nur Kund*in-nen oder Anbieter*innen sein auf einem durch Wettbewerb und Profit getriebenen Markt, sondern echte, nur an der Sache und am Miteinander orientierte Gestalter*innen. Das macht den Unterschied zwischen gewerblich und gemeinnützig, und das ist es, weshalb gerade Pflegebedürftige oder Patient*innen, Menschen in sozialer Not oder Kinder in ihrem Aufwachsen den Vorrang der Gemeinnützigkeit verdienen. Hilfebedürftige Menschen dürfen niemals Renditeobjekte sein.

 

“Gemeinnützige Organisationen mit ihrem bürgerschaftlichen Engagement sind kein nettes Beiwerk, sondern fester Bestandteil unserer Infrastruktur.”

Der Paritätische Gesamtverband hat das Thema Gemeinnützigkeit zum Schwerpunktthema für 2022 und 2023 ausgerufen und die Kampagne ,,#EchtGut – Vorfahrt für Gemeinnützigkeit‘‘ gelauncht. Welche Aktionen sind geplant?

Zum einen setzen wir auf breite Information und Aufklärung über Wesen und Wert der Gemeinnützigkeit durch Veranstaltungen, pointierte Materialien und Social-Media-Aktionen. Es gilt herauszuarbeiten, dass und inwiefern gemeinnützige Arbeit anders ist, eben weil sie auf anderen Motiven fußt. Zum anderen geht es aber auch um einen Prozess der Selbstvergewisserung: Was verbindet uns und wie lebt man das Ideal der Gemeinnützigkeit in der Praxis? Wie leite ich etwa ein Pflegeheim, das in Qualität, Personalgewinnung und Teilhabe statt in Wachstum investiert? Wie organisiere ich kooperatives Miteinander der Trägerlandschaft vor Ort und Widerstand gegen den kommerziellen Verdrängungswettbewerb? Wie trete ich selbstbewusst für die gemeinnützige Arbeit gegenüber Politik und Verwaltung ein? Diese und weitere Fragen wollen wir diskutieren und laden alle Interessierten ein, sich mit einzubringen. Der Not-for-Profit-Gipfel Anfang Juli, den wir gemeinsam mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz und dem Deutschen Mieterbund organisiert haben, stellte dabei einen tollen Auftakt dar. Es wurde deutlich, dass es viele potenzielle Verbündete gibt – daran wollen und werden wir in den nächsten Monaten anknüpfen.

“Ein Wohnungsmarkt, der gemeinnützigen Anbieter*innen Vorrang einräumt, wäre ein wichtiges Instrument.”

Was wünschen Sie sich von der Bundespolitik in Sachen Gemeinnützigkeit?

Zu allererst einmal die Wiedereinführung der 1990 abgeschafften Wohnungsgemeinnützigkeit. Wir alle nehmen aktuell sehr schmerzhaft war, wie vielerorts ein recht gewinnorientierter Wohnungsmarkt kollabiert, wie mit Wohnungen spekuliert wird und unter dem Stichwort Gentrifizierung echte Armutsvertreibung stattfindet. Ein Wohnungsmarkt, der gemeinnützigen Anbieter*innen Vorrang ein- räumt, wäre in diesem Kontext ein wichtiges Instrument. Ein Fehler, der rückgängig zu machen wäre, ist auch die Öffnung des Pflegemarktes für gewinnorientierte Anbieter*innen Mitte der 1990er Jahre. Mittlerweile tummeln sich hier Konzerne und Investmentfonds, die in erster Linie ihren Anleger*innen verpflichtet sind, und die wollen Rendite sehen. Das österreichische Burgenland macht gerade vor, dass und wie eine Entkommerzialisierung der Pflege funktionieren kann. Es geht um den gesetzlichen Vorrang der Gemeinnützigkeit und um das Prinzip der Subsidiarität in allen Bereichen der Daseinsvorsorge, der Wohlfahrt und der Erziehung.

Und was können die Länder tun?

Länder und Kommunen haben es im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten in der Hand, die vielen Vereine vor Ort stark zu machen. Der gemeinnützige Sektor bringt viel Ressourcen mit, Spenden, Beiträge und vor allem freiwilliges Engagement. Aber ohne Förderung, ohne echte Partnerschaft zwischen Kommunen und sozialen Akteur*innen geht es nicht. Hier kommt der öffentlichen Hand eine wichtige Rolle zu.

 

Die Mitgliederzeitschrift "sozial - Schwerpunkt Gemeinnützigkeit" des Paritätischen Schleswig-Holstein finden Sie hier.

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Julia Bousboa

Julia Bousboa ist Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Paritätischen Landesverband Schleswig-Holstein.

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