Wer über Armut spricht, sei es über die selbst erlebte oder die von anderen, ist immer wieder mit Klischees und Vorurteilen über Armut und arme Menschen konfrontiert. Wir haben uns einmal fünf Aussagen herausgesucht, die wir immer wieder hören und haben sie auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht.
Vorurteil 1: “In Deutschland gibt es doch gar keine Armut.”
Wer dies behauptet, verwechselt absolute und relative Armut. Absolute Armut bedeutet, dass Menschen aus materiellen Gründen ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. Nach Daten der Weltbank ist extrem arm, wer weniger als 2,15 Dollar pro Tag hat. Bei absoluter Armut geht es also um das Minimum, das ein Mensch zum Überleben braucht. In Deutschland sprechen wir dagegen von relativer Armut. Sie setzt die materiellen Ressourcen, über die ein Mensch verfügt, ins Verhältnis zum Wohlstand einer Gesellschaft. Es geht darum, ob ein Mensch materiell, kulturell und sozial am Leben der Gesellschaft teilhaben kann. Denn je reicher eine Gesellschaft im Mittel ist, desto höher sind die Lebenshaltungskosten. Wer in Deutschland in Armut lebt, hat zum Beispiel Schwierigkeiten, sich eine gesunde und ausgewogene Ernährung zu leisten, dem Kind ein Fahrrad zu schenken oder eine kaputte Waschmaschine zu ersetzen. Als nach diesem Verständnis arm müssen in Deutschland aktuell 14,1 Millionen Menschen gelten.
Vorurteil 2: “Arme Menschen geben ihr Geld doch nur für die falschen Dinge aus.”
Dieses Vorurteil zeigt eine Unkenntnis über die finanziellen Realitäten von armen Menschen. Die Aussage geht davon aus, dass es bei einem sparsamen Lebensstil gelingt, auch mit sehr wenig Geld über den Monat zu kommen. Sie missachtet jedoch, wie angespannt, ja überspannt, die finanzielle Lage von Menschen in Armut ist. Ein Beispiel: Wer als Alleinerziehende mit weniger als 1489 Euro, hier lag die Armutsschwelle für einen Ein-Personen-Haushalt mit einem kleinen Kind für 2021, alle Ausgaben des Monats bestreiten muss, lebt notgedrungen bereits äußerst sparsam und kann sich viele Dinge, die für andere Menschen alltäglich sind und die gesellschaftliche Teilhabe erst ermöglichen, schlicht nicht leisten.
Vorurteil 3: “Arme Menschen brauchen einen Job, keine Sozialleistungen.”
Dieses Vorurteil taucht in verschiedenen Varianten immer wieder auf - aber es wird dadurch nicht wahrer. Zwar stimmt es, dass Arbeitslosigkeit ein großes Armutsrisiko darstellt. Nur ist deshalb der Umkehrschluss, dass Arbeit das beste Mittel gegen Armut sei, nicht richtig. Für die große Mehrheit der 14 Millionen armen Menschen in Deutschland stellt ein Job keinen Weg aus der Armut dar, weil sie zu jung, zu alt, in Ausbildung oder außerhalb des Arbeitsmarkts mit Sorgearbeit beschäftigt sind. Oder weil sie bereits erwerbstätig sind, wie es 2021 auf mehr als ein Viertel aller Armen zutraf.
Vorurteil 4: “Arme Menschen haben nichts zu tun.”
An diesem Vorurteil zeigt sich ein äußerst enges Verständnis von Armut, das nicht die Lebensrealität von armen Menschen in den Blick nimmt, sondern allein aus der Perspektive der Arbeitsmarktintegration auf Armut schaut. Arme Menschen sind ehrenamtlich tätig. Sie pflegen Angehörige und betreuen Kinder. Sie gehen zur Schule, zur Universität oder sind in Ausbildung. Und, siehe die Antwort auf Vorurteil 2, nicht selten sind sie auch erwerbstätig. Eine pauschale Aussage über den Grad des Tätigseins von armen Menschen muss daher falsch sein. Sie können genauso viel oder wenig beschäftigt sein wie nicht-Arme.
Vorurteil 5: “Das beste Mittel gegen Kinderarmut ist Bildung.”
Nichts spricht gegen gute Bildung als ein Mittel gegen Kinderarmut. Alles spricht sogar dafür, das Bildungssystem so zu stärken, dass Kinder aus armen Familien die gleichen Chancen auf einen guten Abschluss haben wie jene aus wohlhabenden Familien. Falsch wird die Aussage aber dann, wenn sie dafür genutzt wird, Bildung gegen Geld auszuspielen. Wenn also behauptet wird, arme Kinder bräuchten nicht mehr Geld, sondern nur bessere Bildung. Tatsächlich ist Geld aber das schnellste und effektivste Mittel gegen Kinderarmut. Ein besseres Bildungssystem hilft armen Kindern für ihre Zukunft. Mehr Geld hilft den derzeit knapp drei Millionen Kindern dabei, ohne materielle Not aufzuwachsen und an jenen Dingen teilzuhaben, die für ihre Freund*innen normal sind. Und es hilft gegen die Langzeitfolgen für Gesundheit und Psyche, die eine Kindheit in Armut häufig mit sich bringt. Beides, Geld und Bildung, ist also wichtig zur Bekämpfung von Armut.
Dieser Text stammt aus unserem neuen Digitalmagazin "Armut? Abschaffen!". Es erscheint am 2. Mai 2023.
Abonnieren Sie hier kostenlos und verpassen Sie keine Ausgabe mehr!