Das anyway in Köln gilt als die erste queere Jugendeinrichtung in Europa. Partizipation steht dabei seit Anfang an im Fokus der Jugendarbeit. Beim Coming-out-Tag an der Hohenzollernbrücke in Köln berichten die jungen Menschen von ihren Erfahrungen und – küssen sich öffentlich, gleichgeschlechtlich – um sich zu zeigen und als Protestform.

Auf dem Norbert-Burger-Platz der Hohenzollernbrücke in Köln stehen mehrere Jugendliche, die gemeinsam versuchen, einen Banner mit Spanngurten um eine massive Steinsäule herum zu spannen. Internationaler Coming-out-Tag steht darauf. Falk Steinborn vom Jugendzentrum anyway kommt zu ihnen und hilft: „Das müsst ihr nur genügend anspannen.“ Auf der anderen Seite umgrenzen Regenbogenwimpel den Schauplatz. Ungefähr 20 Jugendliche stehen in verteilten Grüppchen darin, so wie eine Minibühne aus Kästen, Beachflags mit dem anyway-Schriftzug und Lautsprechern. Im Hintergrund ragt der Kölner Dom empor. 

Dort, wo Touristen stehen bleiben, um die schöne Aussicht auf Rhein und Dom zu genießen oder ein Selfie zu schießen, wollen queere Jugendliche auf sich aufmerksam machen: Zum Internationalen Coming-out-Tag haben sich die Jugendlichen vom Jugendzentrum bereits vergangenes Jahr die Ausgestaltung überlegt. Statements sollen sich abwechseln mit (gleichgeschlechtlichen)-Paartänzen oder öffentlichem Küssen – auch „Dance-In“ und „Kiss-In“ genannt.

Partizipation als Beweis von Selbstwirksamkeit

„Letztes Jahr waren wir auf der gut besuchten Schildergasse, hier hoffen wir auf die schöne Kulisse“, berichtet Falk vom anyway. Das Jugendzentrum besteht seit 1998 und war der erste queere Jugendtreff in Europa. „In Köln gab es vorher zwei ehrenamtliche Jugendgruppen und daraus ist das anyway entstanden“, weiß Falk. Partizipation, Teilhabe sei somit von Anfang an ein essenzieller Bestandteil der queeren Jugendarbeit. Warum das so wichtig ist? „Das ist der totale Beweis von Selbstwirksamkeit.“, so der Medienpädagoge. Ähnlich wie beim Coming-out habe das Mitwirken bei der Queeren Jugendarbeit mit dem Prozess des Sichtbarwerdens zu tun, man stehe dafür ein, könne nicht unsichtbar werden, setze sich für die gemeinsame Sache ein. „Das hat auch was mit Stolz zu tun“, ergänzt der 35-Jährige. „Wenn die Jugendlichen sichtbar werden, zeigt das, sie sind mit sich selbst valide und das ist nicht nur eine Phase.“ Auch deswegen zeige man bei den Internetauftritten ganz bewusst auch die Fotos der jungen Menschen. Neben dem Thekenteam und dem Mitmach-Team gibt es (Wir), die Jungs- und Mädels-Crew, die verschiedene Stammtische, Themenabende plant und betreut. Ein sicherlich herausstechendes Projekt, was auch mit dem Grimme-Preis nominiert wurde, war die schwule Web-Serie Kuntergrau. 2009 startete das Film-Team mit szenischen Aufklärungsspots.

Küsse von gleichgeschlechtlichen Paaren sind noch immer keine Selbstverständlichkeit in der Öffentlichkeit: Das Kiss-In dient auch als Protestform.

Zehn Jahre hat Gennaro dazu gebraucht, um zu sagen: „Ich bin, wie ich bin“.

In der Mitte des Norbert-Burger-Platzes stehen andere Jugendliche, sie tragen verschiedene Regenbogenflaggen als Umhang. Hinter ihnen ist eine der Reiterstatuen der Hohenzollern-Kaiser zu sehen – ein Relikt aus vergangener Zeit. Jendrik trägt an seinem Cape die Farben blau, lila und rot, er erklärt: „Ich trage die Flagge für Bisexualität, die da hinten ist für Transgender“. Eigentlich sei er aber Pansexuell und die Flagge habe die Farben pink, gelb und blau. Ein Mädchen trägt eine Flagge für Lesben im Spektrum von Lila bis Orange. Jendrik erklärt die Unterschiede der Flaggen, sexuellen Ausrichtungen und Identitäten bis ins kleinste Detail. Falk Steinborn wird später erklären, dass auch dies zum Prozess dazugehört: „Sie saugen die Informationen auf und tauschen sich darüber aus, es ist eine Auseinandersetzung mit der Orientierungs- und Identitätsfrage. Wie und wo ordne ich mich ein?“

Gennaro verteilt Aufkleber: „Du musst ankreuzen, was du machen willst, tanzen oder küssen“, sagt er zu Nox. Der junge Mann wird später auf der Bühne stehen und von seiner Geschichte erzählen. Er ist schwarz und seine Eltern kommen aus Nigeria. Sein größter „Gegner“ und der größte Homophob sei darum immer sein Vater gewesen. „In Nigeria gibt es die Todesstrafe für Schwule“, führt der junge Mann fort. Zehn Jahre hat Gennaro dazu gebraucht, um zu sagen: „Ich bin, wie ich bin“.

Gemeinsam stark: Den queeren Jugendlichen hilft es mit anderen zusammenzusein, die ähnliche Erfahrungen machen.

Queere Treff ist in ganz NRW beliebt

Zwischen den Jugendlichen läuft Max-Liam mit einer Spiegelreflex-Kamera herum, schießt Fotos für die Öffentlichkeitsarbeit, trägt ein Stirnband in Regenbogenfarben und ein bauchfreies Top. „Ich bin beim Team Mitmischen“, berichtet Max-Liam (Pronomen They/them) und erklärt die Hintergründe: Das Kiss-In sei eine alte Protestform aus den Siebzigern und für die Tänze wurden im Vorhinein Standard-Tanzunterricht im Jugendzentrum angeboten. Vor der Veranstaltung habe es mindestens neun Treffen für das Orga-Team gegeben. They wird später auf der Bühne von seinen drei Coming-outs erzählen, als lesbische, trans- und schließlich als nonbinäre Person. Jugendliche aus ganz NRW kommen extra zum anyway nach Köln – Max-Liam kommt aus Dormagen und investiert nach eigenen Aussagen bis zu 40 Stunden wöchentlich in sein Ehrenamt. „Ich bin auch im Team Theke und dort oft erste Ansprechperson im Café“, berichtet they.

Aber dann geht es los an diesem Samstag an der Hohenzollernbrücke: David stellt sich auf die Boxen und berichtet von den Gefühlen, die rund um das Coming-out entstehen. Kevin springt ihm bei und erzählt vom zunehmenden Hass an Schulen und dem Bedarf nach Aufklärung. „Wer von euch hat sich schon in der Schulzeit geoutet?“, fragt David in die Runde, viele melden sich. „Bei wem waren die Reaktionen auf das Coming-out überwiegend negativ?“, fragt er dann einige von den mittlerweile 40 Jugendlichen im Publikum heben daraufhin die Hand hoch.

Als erste dürfen sich Malte und Basti auf der Bühne küssen, einige Fußgänger zeigen sich verwundert und interessiert, bleiben stehen. Beim anschließenden, (gleichgeschlechtlichen)-Tanz passiert es sogar, dass spontan Passanten mittanzen. Durch die Boxen schallt das Lied: „If You Don`t Know Me By Now“ von Simply Red, ein langsamer Walzer, in dem es um Liebe und Akzeptanz geht – und der bei der einen oder dem anderen für Gänsehautstimmung an diesem sonnigen Tag am Rhein sorgt.

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Mehr Beiträge zum Thema Jugendbeteiligung in der aktuellen Ausgabe des Verbandsmagazins mit dem Titel "Jugend partizipiert des Paritätischen Gesamtverbandes!

In dieser Ausgabe wollten wir nicht nur über die Jungen schreiben, sondern sie in erster Linie selbst zu Wort kommen lassen. Deswegen stellen sich zahlreiche Engagierte aus unseren Mitgliedsorganisationen vor, geben Interviews und berichten von ihrem Alltag. Wir fragten nach ihren Gründen für ihr Engagement und bekamen spannende Antworten. Dazu waren wir in einem queeren Jugendzentrum in Köln, in einem Skatepark in Berlin-Marzahn und haben uns in Moabit umgesehen, was Jugendlichen dort geboten wird. In unseren Interviews geht es um Diskriminierungen, aber auch Empowerment und Engagementmöglichkeiten. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei, wie bei unserem Aktionsmonat auf den digitalen Medien wie TikTok und wie junge Menschen sich konstruktiv im Netz bewegen können und welche Gefahren lauern.

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Autor*in

Annabell Fugmann

Annabell Fugmann ist selbstständige Journalistin.

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