Konfrontiert mit einer zunehmend feindseligen Atmosphäre gilt es zu diesem Weltflüchtlingstag mehr denn je, den internationalen Flüchtlingsschutz zu verteidigen. Grundlegende Prinzipien der Genfer Flüchtlingskonvention und Europäischen Menschenrechtskonvention werden öffentlich infrage gestellt, der jüngste EU-Ratsbeschluss droht das Asylrecht in Europa faktisch abzuschaffen und all das, während Abschottung und Abschreckung weiterhin zu mehr und mehr Leid und Tod auf den Fluchtrouten führen. Angesichts dieser massiven Gefahren für den internationalen Flüchtlingsschutz ist es höchste Zeit, sich wieder an seinen Ursprüngen und Prinzipien zu orientieren und einen effektiven, humanen, rechtsstaatlichen und tatsächlich solidarischen Flüchtlingsschutz zu realisieren.

Selten war ein Weltflüchtlingstag drängender, selten die Attacken auf den internationalen Flüchtlingsschutz heftiger, selten die Notwendigkeit größer, auf das Schicksal Schutzsuchender aufmerksam zu machen. Laut UNHCR sind derzeit fast 110 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als die Hälfte von ihnen innerhalb des eigenen Heimatstaats. Innerhalb europäischer Gesellschaften ist jedoch bis weit in die bürgerliche und politische Mitte hinein ein dem internationalen Flüchtlingsschutz zunehmend feindliches Klima zu beobachten. Längst kann öffentlich laut darüber nachgedacht werden, die Genfer Flüchtlingskonvention oder die Europäische Menschenrechtskonvention migrationspolitischen Interessen unterzuordnen. Eine Senkung der ohnehin bereits unter dem menschenwürdigen Existenzminimum angesiedelten Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes wird als Beitrag zur Reduzierung von Sekundärmigration zur Diskussion gestellt. Die Bundesregierung hat erst jüngst die verfahrens- und prozessrechtlichen Sonderregelungen für Schutzsuchende ausgeweitet und an den Außengrenzen wird durch Push-Backs und Inhaftierungen Geflüchteter seit Jahren systematisch europäisches Recht gebrochen und dafür verantwortliche Staaten als „europäischer Schild“ gepriesen.

Einen neuen Tiefpunkt dieser Entwicklung stellt die jüngste Einigung der Innenminister*innen der EU auf eine gemeinsame Position zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) dar. Statt eines „historischen Erfolgs“ droht mit der jüngsten Einigung des Europäischen Rats ein Rückzug von den menschen- und völkerrechtlichen Prinzipien, die als Lehre aus dem historischen Grauen des Zweiten Weltkriegs und zuvorderst den Verbrechen Nazideutschlands gezogen wurden. Als Erfolg wird ein „Solidaritätsmechanismus“ verkauft, in dem sich Staaten durch Geldzahlungen, bspw. an Programme zur Finanzierung der libyschen „Küstenwache“, von jedweder Solidarität im Sinnes eines effektiven Schutzes von Geflüchteten freikaufen können und der bei einer angestrebten Verteilung von 30.000 Geflüchteten pro Jahr bloß einen Bruchteil derjenigen erfasst, die jedes Jahr in der EU um Schutz ersuchen. Sogenannte Grenzverfahren werden dazu führen, dass Hunderttausende an den EU-Außengrenzen in Lagern unter haftähnlichen Bedingungen rechtsstaatlich fragwürdige Asylverfahren erdulden müssen. Die beschlossene Position schützt, mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger, auch keine Person davor, in das Grenzverfahren zu kommen. Entsprechend können neben Familien mit Kindern auch Frauen und ältere Menschen unter diesen Bedingungen in großen Lagern Misshandlungen und Ausbeutung ausgesetzt sein. Grund hierfür ist die Möglichkeit, dass einzelne Staaten in den Grenzverfahren auch prüfen können, ob eine Person aus einem sogenannten „sicheren Drittstaat“ in die EU eingewandert ist. Als vermeintlich sicher gelten solche Drittstaaten selbst dann, wenn der Schutz, den sie gewähren, nur in einzelnen Landesteilen möglich ist und auch dann, wenn dieser weit unter dem Standard der Genfer Flüchtlingskonvention liegt. Geflüchteten muss somit rechtlich wenig mehr als das nackte Überleben zugesichert werden. Zudem können die Mitgliedsstaaten laut Rats-Beschluss selbst festlegen, ob schon die bloße Durchreise genügt, um eine Verbindung der Schutzsuchenden zu jenem Drittstaat festzustellen und somit eine Abschiebung veranlassen zu können. Somit droht, wie schon beim deutschen Asylkompromiss 1993, eine faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl im Sinne eines Rechts auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren und eines effektiven Schutzes, der Geflüchtete mit denjenigen Rechten ausstattet, die es nach dem Verlust des staatsbürgerlichen Bandes zu ihrem Herkunftsstaat braucht, um wieder Teil einer politischen Gemeinschaft werden zu können.

Die Gefahr, die von der beschlossenen Position ausgeht, hat sich auf grausame Weise vergangenen Mittwoch gezeigt, als mutmaßlich mehr als 500 Menschen auf der Überfahrt vom libyschen Tobruk nach Italien ums Leben kamen. Sie gehören zu den mehr als 27.000 Personen, die seit 2014 auf dem Mittelmeer bei der Überfahrt nach Europa vermisst werden. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Nicht nur, dass mitunter auch Maßnahmen der griechischen Küstenwache zum Untergang und dem Tod hunderter Menschen beitrugen, in dem sie das Schiff laut Aussagen Überlebender gen Griechenland zu schleppen versuchte. Es ist nicht schwer vorstellbar, dass es auch die Situation in den griechischen Lagern auf den griechischen Inseln war, die dazu führte, dass die Geflüchteten die längere Überfahrt nach Italien wagten und die angebotene Hilfe der griechischen Küstenwache ausgeschlagen wurde. Letztlich trugen wohl auch in diesem Fall Abschottung und Abschreckung statt menschenwürdiger Aufnahme zum Tod hunderter Menschen bei. Die griechischen Lager können durchaus als Blaupause für die bereits genannten Grenzverfahren gesehen werden, in denen Geflüchtete aufgrund einer „Fiktion der Nicht-Einreise“ an der Weiterreise innerhalb der EU durch Internierung gehindert werden. Entsprechend sind die Konsequenzen des Beschlusses der Innenminister*innen absehbar: gefährlichere Fluchtrouten, mehr Leid, mehr Tote.

Nun könnte eingewandt werden, dass mit Blick auf die gelungene Aufnahme von einer Millionen Ukrainer*innen in Deutschland kaum von mangelnder Aufnahmebereitschaft gesprochen werden könne. Doch verdeutlicht dieses Argument vielmehr das Problem: Flüchtlingsschutz wird zunehmend als Teil staatlicher Interessenpolitik verstanden, weniger als menschen- und völkerrechtliche Verpflichtung, die Staaten auch dann bindet, wenn der Schutz von Flüchtlingen gerade nicht politisch opportun ist. Die relativ geräuschlose Aufnahme Geflüchteter aus der Ukraine beruhte maßgeblich auf einer politischen Entscheidung der EU-Mitgliedsstaaten, die sogenannte Massenzustroms-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz zu aktivieren. Ein Schutz aber, der vom politischen Willen einzelner Staaten abhängt, ist nicht gleichzusetzen mit Verpflichtungen, die gerade aus dem Wissen heraus rechtlich verankert wurden, dass der Vorrang staatlicher Interessen für Geflüchtete tödlich enden kann. Ein einprägsames Beispiel dafür ist die Irrfahrt der St. Louis im Jahre 1939, deren überwiegend jüdische Passagiere in zahlreichen Ländern nicht anlanden durfte, woraufhin über 250 von ihnen anschließend im Holocaust umgebracht wurden. Keinesfalls soll damit die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine kritisiert werden, viele der Maßnahmen sollten vielmehr als Beispiel für die Aufnahme aller Geflüchteter gelten. Die Aufnahme im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine kann allerdings nicht herangezogen werden, um zu zeigen, dass dem Flüchtlingsschutz auf Basis menschenrechtlicher Verpflichtungen Genüge getan werde. Vor allem aber darf sie nicht dazu genutzt werden, eben jene Verpflichtungen aufzuweichen oder abzuschaffen.

Angesichts dieser massiven Gefahren für den internationalen Flüchtlingsschutz ist es wichtiger denn je, sich an seinen Ursprüngen und Prinzipien zu orientieren und einen effektiven, humanen, rechtsstaatlichen und tatsächlich solidarischen Flüchtlingsschutz zu realisieren. Auf europäischer Ebene sind Grenzverfahren und eine Ausweitung der Regelung zu sicheren Drittstaaten abzulehnen. Die Bundesregierung und das EU-Parlament müssen in den anstehenden Trilog-Verhandlungen hier deutliche Nachbesserungen erreichen. Auf nationaler Ebene müssen die Sonderregelungen für Geflüchtete beendet werden: Sie sind keine Menschen zweiter Klasse. Das Asylbewerberleistungsgesetz muss abgeschafft und Geflüchteten der Zugang zum Bürgergeld gewährt werden, vor Gericht muss gleiches Recht für alle gelten und anstatt einer Ausweitung von Inhaftierungen ein effektiverer Spurwechsel auch denjenigen eine Perspektive in Deutschland bieten, denen zwar im engen rechtlichen Rahmen geltender Flüchtlingsdefinitionen kein Schutz zugesprochen wird, deren Fluchtgründe uns aber dennoch in die Verantwortung nehmen.

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Portrait von Thorben Knobloch

Thorben Knobloch

Thorben Knobloch ist Referent für Asylpolitik/ Flüchtlingshilfe in der Abteilung Migration und Internationale Kooperation beim Paritätischen Gesamtverband.

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