Die Lebenshilfe Witten e.V. bietet einen vollständigen Support entlang der Lebensbiografie von Menschen mit Behinderung. Hier ist es selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen bei der Entwicklung der Einrichtung mitbestimmen können. Doch der Geschäftsführer Dr. Dieter König äußert sich im Interview auch sorgenvoll. Durch fehlendes Vertrauen und die geringen staatlichen Unterstützungen, wird die Luft für gemeinnützige Träger immer dünner.

Dr. Dieter König, Geschäftsführer der Lebenshilfe Witten © Lebenshilfe Witten

Die Paritätische Einrichtung Lebenshilfe Witten e.V. arbeitet vom Kinder- bis zum hohen Erwachsenenalter inklusiv. Die Klient*innen der Angebote in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnen und Freizeit werden mit fachkundiger Hilfe, pädagogisch, medizinisch und therapeutisch betreut. Hier werden Menschen praktisch das ganze Leben lang und mit allen Aspekten, die dazu gehören, begleitet.

Was macht die gemeinnützige Arbeit der Lebenshilfe Witten besonders?

Das Besondere an allen Einrichtungen der Lebenshilfe ist, dass die Betroffenen und Angehörigen von vornherein in die Arbeit mit einbezogen werden. Sie sind sozusagen die Regisseure von allem, was hier passiert. Wir denken, es sollten Menschen agieren und Entscheidungen treffen, die selbst betroffen sind und wissen, wovon sie reden. Wir sind kein kalt verwaltetes Wirtschaftsunternehmen, in dem reine Bürokratie entscheidet und unsere Arbeit kann auch nicht durch staatliche Behörden abgebildet werden. Was bei uns beschlossen wird, soll am Schluss immer den Menschen zugutekommen. Dieser Geist durchzieht unsere gesamte Organisation.

Wie beziehen Sie Betroffene in Ihre Arbeit ein?

Alle entscheidenden Gremien, darunter auch der Vorstand, sind mit Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen besetzt. Aber auch an allen anderen Stellen unserer Einrichtung ist Mitbestimmung gewünscht. Dies zeigt sich in der alltäglichen Zusammenarbeit der Bewohner- und Elternbeiräte. Soll eine Anschaffung getätigt werden, fehlt Personal oder braucht es eine Veränderung unserer Ausrichtung, wird das gemeinsam diskutiert. Die Geschäftsführung entscheidet zwar, was umgesetzt wird, aber sie holt sich hierfür ein Stimmungsbild ein und handelt dementsprechend. Für unsere Arbeit ist sehr entscheidend, dass nicht über den Menschen hinweg bestimmt wird, sondern mit den Menschen zusammen.

Wir sind praktisch eine große Familie. Es gibt keine Distanz zwischen den Professionellen oben und den Empfängern von Leistung unten. Stehen in einem Wohnheim oder einer Wohngemeinschaft beispielsweise Events und Feste an, organisieren das alle zusammen. 

Beispielsweise wurde am Rosenmontag in unsere Werkstatt für behinderte Menschen eingeladen, zusammen Musik gemacht, alle waren verkleidet und es gab Kostüm-Wettbewerbe unter den Beschäftigten mit Behinderung und den Gruppenleitungen. Solche familiären Veranstaltungen gibt es nicht, wenn sie von oben aufoktroyiert werden, sondern aus einer guten Atmosphäre heraus. Damit soll nicht der Eindruck entstehen, unsere Arbeit sei eine Spaßveranstaltung. Wenn Kundentermine anstehen und Qualität gefragt ist, arbeiten wir professionell und mit einer Null-Fehlertoleranz. Trotzdem bekommt alles seine Zeit. Bei Menschen mit Behinderung, die ein sehr starkes emotionales Empfinden und Nähebedürfnis haben, kommt es darauf an, gemeinsame Momente zu schaffen. Denn es gibt in der Öffentlichkeit immer noch kleine Hemmschwellen im Umgang mit Behinderungen, die Distanz schaffen. Doch bei uns verschwimmen die Unterschiede zwischen professionell Betreuenden und den Menschen, die unterstützt werden.

 

Lebenshilfe Witten © Lebenshilfe Witten

Warum stehen gemeinnützige Einrichtungen in diesen Zeiten unter Druck?

Wir müssen sehr auf die Kosten achten. Anders als in der Industrie können wir als gemeinnützige Einrichtung nicht durch professionell wirtschaftliches Agieren investieren oder den Kostendruck durch Konjunkturhochphasen ausgleichen. Die Werkstatt für Behinderte produziert zwar, aber mit zu geringer Wertschöpfung. Wir sind quasi am staatlichen Tropf. Ich konnte die Entwicklung seit 2005 verfolgen. Da gab es zu Beginn einen stetigen, guten Finanzfluss. In den letzten Jahren kommen immer nur noch Tropfen an. Man fühlt sich wie ein Patient auf einer Intensivstation und ab und zu tröpfelt mal was durch die Infusion. Ist ein Knick im Schlauch, tröpfelt gar nichts mehr. Die Luft wird dünner und das kann so nicht weitergehen.

Wir leben in einem Zeitalter von Inflation und von zu recht hohen Begehrlichkeiten der Mitarbeitenden. Die Gehaltserhöhungen sind üppig. Die Energiekosten sind üppig. Doch diese Entwicklungen werden auf der Einnahmenseite, wo wir auf den Staat angewiesen sind, nicht eins zu eins abgebildet. Man erlebt, dass an allen Ecken und Enden versucht wird, die öffentlichen Haushalte zu schonen, nur das zu geben, was wirklich unbedingt nötig. Und das unbedingt Nötige müssen wir uns auch noch hart erkämpfen. Dank des Paritätischen Dachverbands bekommen wir hierbei Unterstützung.

Im Laufe der Zeit wurden außerdem in vielen Behörden sogenannte “Controller” eingestellt. Das sind Personen, die kontrollieren, dass die staatlichen Gelder auch zweckentsprechend verwendet werden. Würde man die Anzahl dieser “Controller” halbieren und bei den gemeinnützigen Leistungserbringern dafür pädagogisches Fachpersonal einstellen, würde bei den Menschen wesentlich mehr ankommen. Ich empfinde es als Phänomen, das Gemeinnützigkeit arg behindert und Druck ausübt. Am Ende ist es eine Vertrauenskrise, da wir unter pauschalem Generalverdacht stehen. Einzelfälle aus Einrichtungen, in denen Fehler passieren, werden verallgemeinert und dadurch vielen gemeinnützigen Trägern, die wertvolle Arbeit leisten, der Sauerstoff abgedreht.

Was kann zu einer Stärkung von gemeinnützigen Einrichtungen beitragen?

Mehr Vertrauen, weniger Bürokratie. Es geht nicht darum, dass wir uns abschotten oder nicht in die Karten gucken lassen möchten. Jedoch sollten gemeinnützige Träger in ihrer Gesamtheit betrachtet und bei entsprechenden Anhaltspunkten auch analysiert und verbessert werden. Insgesamt braucht es statt der generellen Schritt-für-Schritt-Überwachung mehr Freiräume für gemeinnützige Träger.

Wir selber können, nach dem Motto "Tue Gutes und rede darüber", unser Marketing verbessern. Damit nach außen getragen wird, was wir täglich leisten. Viele Besucher*innen sind über die vielen verschiedenen Einrichtungen und Angebote auf unserem Gelände überrascht, da diese nach außen hin gar nicht präsent sind. Es braucht mehr mediale Aufmerksamkeit in den Einrichtungen vor Ort. Da, wo es um die Menschen und um deren Wohlbefinden geht. Auf örtlicher Ebene bewegt uns aktuell z.B. der Fachkräftemangel. Notwendig wäre eine Kampagne, die auf den Fachkräftemangel aufmerksam macht und uns unterstützt, neues Personal zu akquirieren. Eine Idee ist, kleine Trailer zu entwickeln, in denen Menschen ihre Begeisterung zu der Arbeit bei gemeinnützigen Trägern ausdrücken, um Lust zu wecken. Momentan arbeiten wir schon an einem Social Media Auftritt. Folgt uns für Einblicke gerne auf Facebook und Instagram.

Wieso braucht es Ihrer Meinung nach einen Vorrang gemeinnütziger Dienste und Einrichtungen?

Grundsätzlich muss man sich vor Augen führen: Alles, was wir tun, ist eigentlich eine staatliche Aufgabe. Wir tun unsere Arbeit aber aus Überzeugung und, weil wir es mit unserem spezifischen Know-how, unserem Fachwissen, der Empathie und unserem sozialen Verständnis besser können. Die ganzen Zusammenhänge, die für unser Wirken essenziell sind, müssen Mitarbeitende entweder mitbringen oder sich Stück für Stück erschließen. Das Eigeninteresse ist dabei ganz wichtig, um die Arbeit mit Motivation umzusetzen. Neben dem professionellen Können, muss ein Spirit aus dem Inneren herauskommen, wachsen und am Leben erhalten werden. Ich bin davon überzeugt, diesen Spirit gibt es nur in der Gemeinnützigkeit. Wir haben in den Wittener Einrichtungen rund 20 Standorte mit allen möglichen Aufgabenfeldern. Das sind alles kleine, bewegliche und selbständig agierende Einheiten. Solch eine Struktur kommt bei Menschen anders an, als wenn Maßnahmen durch den Trichter gepresst werden. Dies ist bei staatlicher Aufgabenerfüllung immer die Gefahr, wie ich finde. Es geht um Wärme und Menschlichkeit und um weniger Bürokratie, die manchmal geradezu Kälte versprüht.

 

Das Interview führte Lilly Oesterreich


Mit der Kampagne #EchtGut - Vorfahrt für Gemeinnützigkeit, vermittelt der Paritätische Gesamtverband seit Anfang 2021 das Thema Gemeinnützigkeit. Nach zahlreichen Vorträgen, Publikationen und Informationsmaterial, porträtiert der Verband nun in einer Beitragsreihe soziale gemeinnützige Mitgliedsorganisationen. Wie gestalten, leben und zelebrieren die Organisationen ihre Gemeinnützigkeit? Wie zeigen sich gemeinnützige Strukturen in der Zusammenarbeit mit Betroffenen und Ehrenamtlichen und welchen Herausforderungen und Chancen begegnen gemeinwohlorientierte Einrichtungen in der heutigen Zeit?

Hier können Sie den Steckbrief der Lebenshilfe Witten e.V. als PDF herunterladen.

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Autor*in

Portrait von Lilly Oesterreich

Lilly Oesterreich

Lilly Oesterreich ist Projektreferentin für Digitale Kommunikation beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Gesamtverband in Berlin. Sie betreut die Paritätische Mitgliederplattform #WirSindParität.

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