Ende Juni 2020 - Wochen von Kontaktbeschränkungen, Home Office, Videokonferenzen und viele ausgefallene Treffen von Selbsthilfegruppen. Manche dieser Menschen hatten nun andere Sorgen oder begrüßten diese Einschränkung als Angehörige einer Risikogruppe. Andere aber bedauerten die Situation sehr und suchten händeringend nach Alternativen.

„Ist das die Renaissance der persönlichen Begegnung? Als ich letzte Woche das Selbsthilfetelefon besetzte, war ich überwältigt von den vielen Anrufen. So viele Telefonate habe ich lange nicht mehr geführt! Auch einige neue Gründer*innen waren dabei und ich habe die leise Ahnung, dass da in den kommenden Monaten in der Selbsthilfe ein kleines Wunder geschehen kann. Kann es sein, dass die Menschen nach all den Wochen mit Kontaktbeschränkungen nun so richtig hungrig sind auf persönliche Begegnungen? Kann es sein, dass deren Bedeutung nun so richtig im Bewusstsein angekommen ist? Die digitalen Errungenschaften sind und waren zwar nützlich, aber die persönlichen Treffen bleiben immer unersetzbar und sind der Kern meiner Arbeit. Ich freue mich auf die kommende Zeit, in der wir hoffentlich von einer zweiten Welle verschont bleiben und die gemeinschaftliche Selbsthilfe wieder richtig aufblühen kann!“

Diese Worte schrieb eine Kollegin unserer Kontakt- und Informationsstellen für Selbsthilfegruppen Hamburg (KISS Hamburg) Ende Juni 2020. Da lagen Wochen von Kontaktbeschränkungen, Home Office und Videokonferenzen hinter ihr. Und zahlreiche Telefonate mit Menschen, deren Selbsthilfegruppe sich nicht mehr treffen konnte. Manche dieser Menschen hatten nun eh andere Sorgen oder begrüßten als Angehörige einer Risikogruppe diese Einschränkung. Manche aber bedauerten das sehr und suchten händeringend nach Alternativen. Das Leben stand Kopf.

Auch viele im Sozial- und Gesundheitswesen Tätige hatten sich Mitte März gefragt „Wie soll das alles ohne persönlichen Kontakt funktionieren?“, als Corona nicht mehr nur eine Meldung von vielen in den Medien war, sondern auch hier den Tagesablauf und den beruflichen Alltag über den Haufen warf. So ging es auch uns bei KISS Hamburg. Es folgten Wochen der Neuorientierung, die Entwicklung von (Not-)Lösungen und der Blick auf die eigenen, einrichtungsinternen Ressourcen. Die Wichtigste davon, das engagierte und lernbereite Team, konnte erfreulicherweise von den Erfahrungen unseres aktuellen Projekts „Neue Wege in der Selbsthilfe“ profitieren. Denn – schon vor Corona! – hatten wir hier eine Selbsthilfe-App entwickelt, die auch die virtuelle Kommunikation von Selbsthilfegruppen datensicher möglich macht. KISS Hamburg hat sich den Erfordernissen angepasst und dabei auch gewonnen. Videokonferenzen sind Teil des beruflichen Alltags geworden, selbst unsere Fortbildungen für Selbsthilfeaktive laufen jetzt teilweise online!

Und doch macht sich eine Sehnsucht nach persönlichem Kontakt, nach echten Begegnungen breit. Auch wenn die Selbsthilfegruppen ihre Treffen noch mit deutlich weniger Teilnehmenden durchführen müssen, sind sie heilfroh, dass sie es überhaupt wieder dürfen. Denn die Leute da draußen, die in den Gruppen Halt, Selbsterkenntnis und Hilfe gefunden haben, mussten in dieser Zeit auf so vieles verzichten. Zwar ist Vorsicht und Abstand geboten, aber es kann wieder losgehen! Die Unsicherheit, wie Gruppentreffen nun unter Einhaltung von Hygiene- und Abstandsregeln funktionieren können, ist groß, gleichzeitig aber nicht groß genug, um das Aufkeimen neuer Gruppen zu verhindern.

Die Selbsthilfe, wie wir sie kennen, wurde ausgebremst und nimmt nun wieder Fahrt auf. Teilweise auf gewohnten Pfaden, teilweise auf neuen Wegen. Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis die erste Corona-Spätfolgen-Selbsthilfegruppe gegründet wird. Oder bis die ersten Gruppen sich rein virtuell treffen und den Anspruch erheben, dafür Gelder aus der finanziellen Förderung der GKV zu beantragen. Oder sich im Zuge der zunehmenden Digitalisierung neue Möglichkeiten ergeben, die wir jetzt noch gar nicht absehen können.

Wir von KISS Hamburg, den vier Selbsthilfekontakt- und Beratungsstellen im Hamburger Stadtgebiet, die Teil des PARITÄTISCHEN Landesverbandes sind, werden diese Entwicklungen begleiten. Denn es ist unsere Aufgabe, die über 1000 Selbsthilfegruppen in Hamburg zu unterstützen, ebenso alle interessierten Bürger*innen. Menschen in Kontakt bringen, das ist die Aufgabe der zwölf Selbsthilfeberaterinnen, des Projekt-Teams „Neue Wege in der Selbsthilfe“, des Teams der Verwaltung und der Öffentlichkeitsarbeit. Die Gründung neuer Selbsthilfegruppen, die Unterstützung schon bestehender Gruppen, die Beratung, Informationsveranstaltungen und Kooperationen sind unser Berufsalltag. Dieser wurde durch die Pandemie ziemlich auf den Kopf gestellt, aber wir schauen zuversichtlich auf die neuen Herausforderungen. Denn was lehrt uns die Selbsthilfe? Aus jeder Krise erwächst auch eine Chance. Nutzen wir sie gemeinsam!


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Portrait von  Nora Baldamus & Katja Gwosdz

Nora Baldamus & Katja Gwosdz

Nora Baldamus ist Selbsthilfe-Beraterin bei KISS Hamburg und arbeitet derzeit in der Kontaktstelle Hamburg-Harburg. Katja Gwosdz ist beim PARITÄTISCHEN Wohlfahrtsverband Hamburg e.V. und bei KISS Hamburg für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig.

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