Ali Can ist noch nicht einmal dreißig und hat bereits einiges ins Rollen gebracht. Der Lehramtsstudent schaltete 2016 im Zuge der Wahlerfolge der AfD und dem Erstarken der „Pegida“-Bewegung die „Hotline für Besorgte Bürger.“ Jene konnten ihn, den ehemaligen Asylbewerber, anrufen, ihre vermeintlichen Sorgen schildern und Can setzte sich erst einmal unvoreingenommen, aber bestimmt im menschenrechtlichen Sinne für sie ein. Zwei Jahre initiierte er die Kampagne #MeTwo. Unter diesem Hashtag berichteten Migrant*innen in den sozialen Netzwerken von dem Alltagsrassismus, der ihnen wiederfährt. Zur Bundestagswahl 2021 hat Can, der inzwischen auch Buchautor und Gründer des Essener VielRespektZentrums ist, die Kampgane #wAlman ins Leben gerufen. Darüber haben wir mit ihm gesprochen.

Herr Can, nach einer Studie der Konrad Adenauer Stiftung sind Deutsche mit Migrationshintergrund als auch die hier in Deutschland ohne deutschen Pass Lebende zufriedener mit der Demokratie als sog. Biodeutsche. Trotzdem gehen sie deutlich seltener zu Wahlen. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Es gibt mehrere Gründe: Zum einen haben Menschen mit Migrationshintergrund tendenziell ein internalisiertes Ausländer- bzw. Gastverständnis, das dadurch zu Stande kommt, dass sie jahrzehnte- oder jahrelang immer wieder auch als Gäste oder Ausländer gesehen und behandelt wurden. Da spielen die ganzen Ausgrenzungserfahrungen oder die ganze strukturelle Diskriminierung, die ganzen Rassismuserfahrungen im Alltag, in der Schule, bei der Jobsuche oder bei der Wohnungssuche mit rein. Das heißt, wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie weniger gern gesehen sind oder dass sie vielleicht weniger Rechte haben, dann verhalten sie sich dementsprechend auch so und gehen erstmal davon aus, dass es an dem Land liegt. Die würden das vielleicht so formulieren: Das sei das Land der Deutschen und sehen sich vielleicht noch nicht wirklich als deutsch, weil man Ihnen häufig aus der rechtskonservativen bis rechtsextremistischen Ecke immer wieder sagt: „Ihr seid Migranten, ihr seid keine Deutschen.“

Es gibt ein Zweiklassenbild, was die Definition des Deutschseins angeht und da haben eben Migranten durch die Rassismuserfahrungen und vor allem durch den jahrzehntelangen Diskurs, der die Migrant*innen eher wie Gäste behandelt hat, das Gefühl, dass sie eben nicht gleichwertig Deutsche sind. Dementsprechend aktiviert es sie auch weniger, wenn es hier Wahlen gibt. Es überrascht ja manchmal, dass Leute, die doppelte Staatsbürgerschaften haben, in dem Land, in dem sie beispielsweise geboren sind, zur Wahl gehen und gerne Wählen! Warum? Weil sie sich dadurch irgendwie noch mehr dort identifizieren, weil sie hier nicht den Raum bekommen, sich zu identifizieren, also nicht die Einladung bekommen.

Das ist das eine und der zweite Grund ist, dass die Bundestagswahl natürlich etwas anders abläuft als in anderen Ländern. Dafür braucht man Bildungsangebote, man braucht politische Teilhabe, schlichtweg Informationen. Und zum einen mangelt es an Informationen für diese Zielgruppe, zum anderen sind die Informationen schwer verständlich, also nicht mehrsprachig usw. Und wenn da, sage ich mal, eine Lücke geschlossen werden würde, was ich ja mit der #wAlman-Kampagne versuche, dann glaube ich auch daran, dass Menschen noch mehr Interesse zeigen, weil sie verstünden oder verständen, was sie da wählen können, worum es geht, warum es wichtig ist, zu wählen usw. Aber neben dem Identitätsaspekt und den Ausgrenzungserfahrungen, spielt es auch eine Rolle, dass Menschen Informationen haben.

Sie haben es gerade schon so ein bisschen angedeutet mit den Parteien. Das fällt ja auch mir auf, dass wenn man vereinzelt durch Kreuzberg oder Neukölln fährt, dann sind da vielleicht auch mal arabische Wahlplakate zu sehen, aber tatsächlich auch nur vereinzelt. Jetzt macht die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund, die wählen können, immerhin 11 Millionen Menschen aus und warum wird denn dieses, ja, eigentlich riesige Potential von den Parteien einfach so liegen gelassen?

Das hat mit einer allgemeinen Lage zu tun. Die allgemeine Lage ist, dass es erst seit etwa 2018 verstärkt ein Gespür dafür gibt, wie viel Diskriminierung existiert. Wenn wir Menschen aktivieren wollen, dann müssen wir Barrieren abbauen. Diskriminierung oder strukturelle Diskriminierung ist eine Barriere. Und das Gespür dafür ist erst seit Neuestem – seit 2018, seit #meTwo, seit der ersten größeren aus Deutschland kommenden Antirassismusdebatte, wo eben zehntausende Menschen mit Migrationsgeschichte offen und teilweise intim ihre Erfahrungen geteilt haben. Erst seitdem trauen sich auch immer mehr Betroffene zu sprechen und eben auch Forderungen zu stellen. Und dadurch, dass das halt erst zu einer jüngsten Zeit passiert ist, braucht es, glaube ich, noch ein bisschen, leider. Oder anders gesagt, sind Parteien noch nicht so weit, dass sie in ihrem eigenen Verständnis diese Gruppen ansprechen, aktivieren und sich als Einwanderungsgesellschaft verstehen und so weiter. Aber noch wird zu häufig eben auch von den Menschen, die in den Parteien sitzen, egal ob sie jetzt im progressiven Bereich angesiedelt sind oder nicht, brauchen sie selbst erst einmal eine Sensibilisierung und ein Verständnis dafür, dass deutsch sein vielfältig ist.

Sie haben jetzt die Kampagne „#wAlman“ gestartet, um Menschen mit Flucht und Migrationserfahrung, wie sie auf der Homepage schreiben, zum Wählen zu bewegen. Wie wollen Sie denen dabei helfen?

In der #wAalman-Kampagne, die wir starten, setzen wir vollkommen auf politische Bildung, aber eben zielgruppenorientiert. Es gibt den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für Politische Bildung nicht in mehreren Sprachen, noch nicht einmal in Leichter Sprache. Es gibt auch kaum Erklärvideos oder sonstige Hilfen, die das vielleicht besser veranschaulichen als amtsdeutsche komplexe Texte. Und da, finde ich, muss man ansetzen. Also da schließen wir eine Lücke, bilden mit der Kampagne einen Kit, die eigentlich vom Staat erfüllt werden müsste. Die Bundeszentrale für Politische Bildung ist allerdings angesiedelt beim Bundesministerium des Inneren, das heißt im Heimatministerium und das Heimatministerium muss man sich vorstellen, stellt nicht solche Angebote für mittlerweile heimisch gewordene Menschen dar und spricht sie nicht zielgruppenorientiert an. Und deswegen haben wir den Wahl-O-Mat selber weiterentwickelt. Unser heißt, wir tun uns da zusammen mit dem Wahlswiper, und das Wahlswiperteam und ich haben den Wahl-O-Maten in mehreren Sprachen übersetzt. Leute, die vielleicht in ihrer Erstsprache, Herkunftssprache, sich besser und wohler fühlen, wenn es zu politischen Informationen kommt, können sich dadurch dann halt besser eine politische Meinung bilden. So kann man eben total modern auch wie bei so Dating-Apps, Tinder oder Okcupid, nach links oder nach rechts wischen. „Gefällt mir, die Antwort.“, „Ich bin für Grundeinkommen.“ Das funktioniert total modern. Und es gibt bei unserem eigenen Wahl-O-Maten auch Videos. Diese Kombination ist einfach niederschwelliger und das ist so ein wichtiges Projekt in dem Walman, in der Kampagne.

Zum anderen machen wir in verschiedenen Sprachen ein, zwei Erklärvideos. Außerdem haben wir Menschen mit Migrations- oder Fluchthintergrund gebeten, gemeinsam mit uns Videos zu erstellen. Wir machen Porträts von denen und die rufen auf, dass man zur Wahl gehen soll. Also Personen die sozusagen Betroffene sind oder aus der Gruppe der Betroffenen kommen, aus der Zielgruppe rufen in ihren Porträts dazu auf, zu wählen und erklären aus ihrer Sicht, warum. Ich mach da auch mit.

Zum anderen aber ist wichtig zu wissen, dass auch Erhebungen der Bundesbeauftragen für Migration gezeigt haben, als es darum ging herauszufinden, warum Deutsche mit Migrationshintergrund tendenziell weniger wählen bei der Bundestagswahl, als Deutsche ohne. Die haben herausgefunden, dass die analoge Ansprache ziemlich wichtig ist. Also, dass man online sich sehr viel Gedanken machen kann oder mit Broschüren. Schön und gut, aber es ist etwas anderes mit Menschen Vis-a-Vis zu sprechen und sie zu ermuntern. Deswegen machen wir in vier großen Städten Festivals. Damit wir viel Aufmerksamkeit bekommen, Kunst- und Kulturprogramm auf der Bühne und zwischendurch einige Reden bieten. So dass wir eben auf öffentlichen Plätzen oder Locations Raum einnehmen und die Menschen vor Ort ansprechen. Wir sind in Berlin, Mannheim, Köln und Essen. Dort sind wir dann tagsüber den ganzen Tag und verteilen auch unsere Informationen. Dann haben wir Plakate da, dann haben wir Tablets da, wo man unseren eigenen Wahlswiper, den Walman-Wahlswiper bedienen kann, mal gucken kann, wer passt zu einem. Wir haben Pop-Up-Wahlkabinen. Das heißt, man kann auch eben mal gucken, wie ist das denn eigentlich zu wählen. Und das kann natürlich auch von Menschen getan werden, die noch nicht den deutschen Pass haben. Vielleicht kann es sie ja motivieren, irgendwann dadurch dann den deutschen Pass zu bekommen, also die Berührungsängste verlieren. Und das ist eben der zweite Part neben Videos dem Wahlswiper, Social Media eben aber auch diese Festivals.

Welche Verbindung oder welchen Bezug haben Sie eigentlich zur Arbeit des Paritätischen Gesamtverbandes?

Ich bin bewusst auf den Paritätischen Wohlfahrtsverband zugegangen, weil mich mit dem Paritätischen ein ganz großer gemeinsamer Nenner verbindet. Der da wäre, dass wir beide zwar überparteilich sind, aber nicht unpolitisch. Wir beide arbeiten konfessionsübergreifend. Das ist ein großer Unterschied zu anderen Wohlfahrtsverbänden. Wir positionieren uns auch zur AfD. Wir wollen Menschen mit Migrationshintergrund und sogenannte Migrantenselbstorganisationen befähigen und empowern. Der Paritätische beispielsweise macht unter anderem ja auch Angebote für Vereine, Organisationen, schreibt Programme aus, führt manchmal auch vielleicht mehrere und diverse Vereine zusammen und sagt: „Wir möchten euch jetzt befähigen in dem und dem Bereich.“ Und das ist ein Gedanke, der mir sehr gefällt. Der Paritätische hat auch zu Corona unfassbar viel gemacht. Er ist einfach eine sehr wachsame Organisation, die immer wieder Position bezieht, beispielsweise aktuell zu Afghanistan. Da wurde eine Erklärung herausgegeben die mich total anspricht. Das heißt, das ist ein Wohlfahrtsverband, der seine Wohlfahrtspflicht als eine Säule im Sozialstaat vollkommen wahrnimmt und darüber hinaus auch sensibel genug ist für die interkulturellen Verhältnisse im Land. Das beides verbindet uns und deswegen sehe ich mich immer dort. Ich habe auch beim Paritätischen bei einer Ausbildung zum interkulturellen Trainer mitgemacht, bei der Paritätischen Akademie und wir haben Lesungen organisiert, wir haben den Vielfaltspreis hier in NRW bei uns im Zentrum herausgegeben. Also ich glaube, wenn ich nicht bei mir in der Stiftung arbeiten würde, würde ich bei dem Paritätischen arbeiten.

Ich gehe davon aus, dass Sie auch selber wählen werden. Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, welcher Partei Sie am 26. September Ihre Stimme geben?

Für mich ist ganz entscheidend, ob eine Partei eine Ahnung hat und sensibel genug ist und sich vor allem mit der Frage auseinandersetzt, wie wir zukünftig Leben wollen. Und diese Frage betrifft zum einen soziale Fragen des Miteinanders, aber auch des Sozialstaates, zum anderen aber auch des Klimaschutzes. Das heißt, es geht mir darum, dass eine Partei eine Vision davon hat, was wir brauchen, wo wir ansetzen müssen und eine Vision davon, wie es besser geht, wohin wir wollen. Und da gibt es eben tendenziell bei den progressiven Parteien, die da eben eine klarere Antwort haben und mutig genug sind für eine Regierung, für eine Politik, die alle Menschen im Blick hat und zum anderen aber eben auch zukunftsfähig ist. Und das betrifft sowohl den Bereich Vielfalt, Diversity, denn man darf nicht vergessen auch jetzt durch Afghanistan und Co: Es werden immer wieder Menschen zu uns kommen, flüchten nach Deutschland. Das Thema wird nie erledigt sein. Das heißt, man braucht endlich mal Parteien und Politik, die da zukunftsorientiert arbeiten. Zum anderen aber auch was Klimaschutz angeht, auch eine Vision, wie man an den Zielen: Pariser Abkommen und so weiter festhalten kann.

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Philipp Meinert

Philipp Meinert verantwortet beim Paritätischen Gesamtverband den Bereich Presse und Redaktion. Für das Verbandsmagazin des Paritätischen Gesamtverbandes schreibt er Artikel und führt Interviews.

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