Anne Wistuba ist Schuldner*innenberaterin beim Deutschen Familienverband. Wir sprachen über die drohende Überschuldung angesichts von Inflation und steigenden Energiepreisen.
Frau Wistuba, wie ist aktuell die Situation bei Ihnen in der Berliner Schuldnerberatung? Ist es anders als etwa vor einem Jahr um diese Zeit?
So viel hat sich nicht verändert. Im Prinzip kommen die Ratsuchenden mit den gleichen Fragen in konstant hoher Zahl in die Beratung. Was jetzt dazu kommt, sind spezifische Fragen zum Thema Lebenshaltungskosten und zur Inflation. Das reduziert aber die Zahl der sonstigen Anfragen nicht.
Man liest öfter, dass die meisten Schulden Konsumschulden sind, also beispielsweise durch Ratenkäufe verursacht werden, die man dann nicht mehr bedienen kann. Hat sich vielleicht da etwas verschoben?
Die Konsumverschuldung ist nicht höher geworden. In den letzten Jahren hat aber verstärkt die sogenannte Primärverschuldung zugenommen. Das sind zum Beispiel Schulden durch Miete oder auch bei Energieanbietern. Das ist aber nicht neu. Die Energiepreise und die Mieten steigen schon seit längerem an. In Berlin ist der Mietmarkt sehr angespannt. Das hat sich im Vergleich zu vor zehn Jahren stark verändert. Auch die Ausweichmöglichkeiten, also eine günstigere Wohnung, sind schwieriger zu finden. Da merken wir einen Anstieg.
Sie haben bereits angedeutet, dass das dicke Ende bei der Nebenkostenabrechnung kommen könnte. Zeichnet sich das bereits ab oder liegt das noch in der Zukunft?
Was sich bei uns abzeichnet, sind die steigenden Vorauszahlungen, die die Vermieter*innen schon stellenweise angepasst haben. Da gab es im Sommer schon Ankündigungen auf freiwilliger Basis. Es wurden die Klient*innen oder die Ratsuchenden von ihren Vermieter*innen angeschrieben, mit dem Vorschlag, sich ein finanzielles Polster für die Vorauszahlungen anzulegen. Was wir noch nicht haben, sind die Jahresendabrechnungen beim Strom und bei den Gasversorgern. Wir rechnen alle mit einem sehr großen Anspruch.
Es kommen viele zu Ihnen, wenn das Kind sprichwörtlich in den Brunnen gefallen ist. Wie sieht es bei Ihnen mit Prävention aus, also dass man erst gar nicht in die Schuldenfalle gerät?
Selbstverständlich bieten wir auch eine Haushalts- und Budgetberatung an. Wer früh zu uns kommt, zum Beispiel bevor sie oder er zahlungsunfähig wird, bekommt eine entsprechende Beratung. Manchmal sind es einfach Umstellungen, die ein Problem ebenfalls lösen können. Es kommen aber auch Menschen, bei denen absehbar ist, dass Prävention nicht mehr ausreicht; etwa, wenn der Arbeitsplatz schon verloren gegangen ist. Auch gibt es Situationen, bei denen man auch mit einer Verhaltensänderung eine Verschuldungssituation nicht immer verhindern kann. Daher ist ein großes Anliegen der Schuldnerberatungsstellen, die Finanzkompetenz bei den Verbraucher*innen zu erhöhen. Das muss in der Schule schon umgesetzt werden - damit erst gar keine Schulden gemacht werden.
Um die sozialen Härten etwas abzufedern, hat die Bundesregierung jetzt verschiedene Maßnahmen gestartet. Halten Sie diese aus Ihrer fachlichen Sicht für ausreichend?
Nein, ich und alle meine Kolleginnen halten sie nicht für ausreichend. Zwar sehe ich, dass die Bundesregierung die Situation entschärfen will. Wenn man sich jedoch die Gas- und die Strompreisbremse anschaut, haben wir in diesem Winter eine Lücke. Die Hilfen greifen erst im März des nächsten Jahres. Es gibt rückwirkend etwas Geld. Letzten Endes wissen wir schon jetzt, dass Geld fehlen wird. Es wird viele Situationen geben, wo diese Unterstützungsmaßnahmen nicht ausreichen werden. Mit Gas- und Strompreisbremsen können ja nicht alle Rechnungen bezahlbar werden.
Es wird auch auf Landesebene verschiedene Hilfen geben. Das ist gerade ein ganz heißes Thema. Bei uns bleiben viele Fragen offen. Werden die Menschen wissen, wo sie welche Anträge stellen können? Wie wird die Form der Anträge sein? Werden die Leute mit den Formalitäten zurechtkommen? Wie werden die Fristenregelungen sein? Werden alle, die einen Anspruch haben, diesen rechtzeitig geltend machen können? Und wer wird das alles bearbeiten können? Da sind viele Fragezeichen.
Wie bereiten Sie sich vor?
Die Berliner Beratungsstellen laufen auf Hochtouren. Wir versuchen, wie viele andere, hilfreiche Wegweiser aufzustellen. Für die Beratungsstellen, aber auch die Ratsuchenden, damit sie möglichst gut informiert sind. Wir informieren zum Beispiel darüber, wo Anträge gestellt werden müssen, und welche Unterlagen nötig sind.
Es gibt noch Nachbesserungsbedarf bei den Hilfsmaßnahmen. Zum Beispiel sehe ich eine ungerechte Lösung bei der Vergabe finanzieller Unterstützungen. Wir haben einerseits das Prinzip der Beihilfe. Sprich: Es gibt Übernahmen von Rechnungen bei Schulden. Und andererseits gibt es Darlehen. Diese müssen zurückgezahlt werden. Ein Beispiel: Manchen Leuten wird eine Betriebskostenabrechnung erstattet werden. Anderen wieder, die etwas mehr verdienen, sich die gestiegenen Kosten aber trotzdem nicht leisten können, wird ein Darlehen gewährt.
Was müsste man darüber hinaus jetzt konkret tun, um die Härten abzufedern?
Aufgrund dieser Situation befürchten wir natürlich, dass es letzten Endes zu vielen Kündigungen und Stromsperren kommen wird, wenn diese Forderungen nicht sofort von Dritten übernommen werden können. Als Schuldnerberatungsstellen halten wir es für sehr wichtig, jetzt einen Schutz vor Energiesperren und Wohnungsverlust zumindest für die Wintermonate einzuführen.
Weitere Informationen zur Schuldner*innen- und Insolvenzberatung des Deutschen FamilienVerbandes in Berlin gibt es auf der Website der Organisation.
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserem aktuellen Verbandsmagazins mit dem Titel "Energie und Krise" des Paritätischen Gesamtverbandes.
Viele Menschen in Deutschland sorgen sich derzeit um die steigenden Energiepreise. Auf der anderen Seite sind der Klimawandel und seine Folgen ein dringliches Problem. Für unser Verbandsmagazin haben wir deshalb mit der Klimaaktivistin Luisa Neubauer gesprochen und sehen uns an, wie Paritätische Organisationen bei Energiearmut helfen und wie unsere Einrichtungen sich selbst den neuen Herausforderungen anpassen und auf ökologische Energieversorgung umsteigen. Wir geben Energiespartipps und stellen das Projekt www.energie-hilfe.org vor.
Für manche ist Soziales und Ökologie ein Widerspruch. Nicht für den Paritätischen. Wir sagen schon lange: Es geht nur ökosozial. Daher berichten wir auch über unsere Kooperation mit Bündnispartner*innen aus dem Umweltbereich. Und natürlich gibt es wieder alle Neuigkeiten aus dem Paritätischen Gesamtverband.