Warum sich Arbeit lohnt und Vollsanktionen in die Irre führen

Passen die Fakten nicht zur Theorie, ist das schlecht für die Fakten. So oder ähnlich scheint das informelle Motto einer nun schon über Monate andauernden Desinformationspolitik zu lauten.  Von interessierter Seite werden aus Ignoranz oder durch bewusste Verdrehung der Zahlen der Eindruck erweckt, dass das Bürgergeld zu hoch und der „Lohnabstand“ zu niedrig seien. Ein aktueller Blick auf die Debatte:

Hat man mehr, wenn man arbeitet als wenn man Bürgergeld bezieht? Ja, und zwar deutlich mehr. Dafür sorgen schon die Freibeträge im Bürgergeld. Normalerweise werden alle Einkommen auf das Bürgergeld angerechnet. Das Kindergeld beispielsweise wird vollständig mit dem Bürgergeld verrechnet, Familien im Bezug haben nichts davon. Freibeträge garantieren, dass ein Teil des Einkommens nicht angerechnet wird und damit zusätzlich zum Bürgergeld verfügbar ist. Die ersten 100 Euro Einkommen werden im Bürgergeld nicht angerechnet, dazu weitere 20 Prozent des Einkommens über 100 bis 520 Euro, bis zu 84 Euro. Wer zwischen 520 und 1.000 Euro verdient, kann 30 Prozent des Einkommens in diesem Bereich zusätzlich zum Bürgergeld behalten, über 520 Euro bis 1.000 Euro können 30 Prozent des Einkommens behalten werden, maximal weitere 144 Euro. Ein Single mit einem Einkommen von etwa 1.000 Euro brutto und einer durchschnittlichen Miete hat so deutlich über 300 Euro mehr Geld zur Verfügung, als jemand, die oder der Bürgergeld ohne zusätzliches Arbeitseinkommen bezieht. Und auch, wenn es manchmal anders behauptet wird: Das Bürgergeld ist kein bedingungsloses Grundeinkommen, es ist an harte Bedingungen geknüpft und immer noch viel zu knapp bemessen.

Fakt ist: Wer arbeitet, hat immer mehr als jemand, der Bürgergeld bezieht. © Bild von rawpixel.com auf Freepik

Was in der Debatte um die sich angeblich nicht lohnende Arbeit gerne unberücksichtigt bleibt: Ein Jahr nach Einführung des Bürgergeldes sind in Deutschland rund 46 Millionen Menschen erwerbstätig. Das ist ein Rekordhoch. Arbeit lohnt sich nicht? Im Gegenteil! Menschen wollen tätig sein und arbeiten. Und viele tun das auch, wenn sie Bürgergeld bekommen und beziehen dieses zusätzlich zu anderen, aber viel zu niedrigem Einkommen, von dem sie nicht leben könnten. Ohnehin befinden sich in der „Grundsicherung für Arbeitsuchende“, wie das Bürgergeld auch genannt wird, nur zum kleineren Teil Erwerbsfähige, die ohne Beschäftigung sind. Von den etwa 5,5 Millionen Menschen im Bürgergeldbezug sind 1,5 Millionen Kinder. Das sind keine kleinen Arbeitslosen, sie gehören in eine echte Kindergrundsicherung.

Es bleiben etwa 3,9 Millionen erwerbsfähige Berechtigte, von denen 2,2 Millionen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Die Gründe dafür sind vielfältig. 800.000 davon sind bereits erwerbstätig, erhalten für ihre Arbeit aber nicht genug, um bspw. auch ihre Kinder mit zu versorgen. Die anderen sind in Ausbildung oder in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, vorübergehend krank und besonders häufig engagieren sie sich in der Pflege und Erziehung von Angehörigen. Das verdient Respekt und Anerkennung. Arbeitslos zu sein bedeutet nämlich keinesfalls beschäftigungslos zu sein und den ganzen Tag nichts zu tun. Im Gegenteil. Trotzdem werden Bürgergeldberechtigte immer wieder unter Generalverdacht des Leistungsmissbrauchs gestellt. Das ist infam und geht an der Sache vorbei. Und eigentlich hätten sogar noch viel mehr Menschen ein Anrecht auf Bürgergeld. 40 bis 60 Prozent der Berechtigten nehmen ihre Ansprüche gar nicht wahr, weil sie Stigmatisierung fürchten oder vom Amt unabhängig bleiben wollen. Die soziale Realität in Deutschland ist der Nichtgebrauch von Leistungen, nicht deren Missbrauch.

Nur etwa 1,7 Millionen der 5,5 Millionen Menschen im Bürgergeldbezug sind tatsächlich arbeitslos und erwerbsfähig. Dabei handelt es sich häufig um Menschen, die in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigt sind. Als erwerbsfähig gilt bereits, wer täglich mehr als drei Stunden arbeiten kann. Viele von ihnen werden mit ihrem Leistungsvermögen einfach nicht gebraucht, weil sie als zu alt oder zu krank gelten. Zwei Drittel von ihnen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung, nur etwa ein Fünftel der offenen Stellen kommt für diese Menschen überhaupt in Betracht. Soviel zu der Annahme, dass Arbeit findet, wer nur intensiv genug sucht. Wer für Menschen in dieser Situation nach Totalsanktionen ruft, lenkt von den tatsächlichen Handlungsbedarfen ab.

Um aus der Armut herauszukommen, wären mehr Fördermaßnahmen nötig. Die müssten stufenweise zurück in Arbeit führen, wie nachgeholte Ausbildungen. Doch gerade dafür streicht die Bundesregierung aktuell massiv die Mittel, weil diese oft mehrjährigen Maßnahmen eben auch Geld kosten. Nur etwa sechs Prozent der Berechtigten werden durch die Jobcenter in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vermittelt. Das ist eine sehr schlechte Quote. An der Stelle müsste man ansetzen, wenn man Langzeitarbeitslose nachhaltig zurück in gute Beschäftigungsverhältnisse vermitteln will, aber das passiert nicht. Selbst den sog. Bürgergeld-Bonus von 75 Euro im Monat, der als Motivation für die Tätigkeit in einer Maßnahme gedacht war, wurde nun gestrichen. Trotzdem widerspricht es all unseren Erfahrungen, dass mehr als Einzelfälle konsequent nicht arbeiten wollen. Nur etwa 6.000 Fälle gibt es, in denen eine angeblich zumutbare Tätigkeit abgebrochen oder deren Aufnahme verweigert wurde. Dafür gibt es oft gute Gründe, etwa wenn ein alkoholkranker Mensch sich weigert, einen der vielen freien Jobs in der Gastronomie wahrzunehmen.

Strafen mögen für Fußballer sinnvoll sein, aber nicht für Bürgergeld-Beziehende. © Bild von master1305 auf Freepik

Dass solche Sanktionen schwerwiegende Grundrechtseingriffe sind und deshalb strengsten Maßstäben genügen müssen, sah auch das Bundesverfassungsgericht so. Es hat 2019 Sanktionen, die mehr als 30 Prozent des Regelbedarfs umfassen, für verfassungswidrig erklärt. Einer der Gründe dafür war, dass die Jobcenter nicht regelmäßig prüften, was die Gründe für etwa ausbleibende Rückmeldungen waren. Und etwa ein Drittel der Bürgergeldberechtigten leiden unter psychischen Erkrankungen. Das Bundesverfassungsgericht befand auch: Durch Leistungskürzungen, etwa bei Miete und Heizkosten, in Überschuldung oder aus dem Hilfesystem getrieben zu werden, nutzt niemandem. Hinter dieser Erkenntnis fallen die neuen Regelungen zurück, denn mit dem Regelsatz soll dann auch der Strom komplett gestrichen werden können. Es drohen Energiesperren und weitere Überschuldung. Das ist das Gegenteil von dem, was Menschen in der schwierigen Situation brauchen.

Ob das Bundesverfassungsgericht die geplante Verschärfung der Sanktionen im Klagefall bestätigt, ist zweifelhaft: Das höchste Gericht Deutschlands hat großen Wert darauf gelegt, dass die Sanktionen nicht zu Wohnungsverlust und Überschuldung führen sollen. Da der Strom aus dem im Sanktionsfall wegfallenden Regelsätzen finanziert werden muss, ist das künftig nicht mehr gewährleistet. Es hat außerdem großen Wert darauf gelegt, dass alles unternommen werden muss, dass psychisch kranke Menschen nicht sanktioniert werden. Aber noch immer ist nicht gewährleistet, dass nach unbeantwortet bleibenden Schreiben durch das Jobcenter der persönliche Kontakt gesucht wird. Es hat auch gefordert, dass bei derart schweren Eingriffen in das Existenzminimum klar sein muss, dass das eine wirksame Maßnahme ist, um Menschen in Arbeit zu bringen. Der Nachweis steht aus. Totalsanktionen können auch einen gegenteiligen Effekt haben und dazu führen, dass Menschen den Kontakt zu den Jobcentern abbrechen und sich weiter vom Arbeitsmarkt entfernen.

Wichtig zu wissen: Vor einem Jahr wurde auch das Wohngeld erhöht. Die Leistung wurde in etwa verdoppelt, auf im Schnitt 370 Euro, der Berechtigtenkreis auf zwei Millionen Haushalte verdreifacht. Das war angesichts der Mietsteigerungen dringend nötig. Man denke nur an Millionen von Rentnerinnen und Rentnern, deren Renten viel langsamer als ihre Miete und die Lebenshaltungskosten steigen. Das Wohngeld ist da eine echte Hilfe, mit je nach örtlichen Mietkosten und Einkommen gestaffelten Sätzen. Die wachsenden Wohngeldausgaben sind dabei auch ein Ergebnis der Tatenlosigkeit seitens der Bundesregierung, den Wegfall von immer mehr Sozialwohnungen auszugleichen, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und die Kostensteigerungen, etwa durch Indexmieten, zu begrenzen. Nichts davon passiert im notwendigen Umfang.

Nur bei Wohngeld und Lohn können die Leistungen in Einzelfällen nahe beieinander liegen. Arbeit lohnt sich dennoch deutlich, denn die damit erworbenen Ansprüche sind in den Modellrechnungen nicht einmal mitgezählt.

Johannes Steffen vom Portal Sozialpolitik, der uns die freundliche Genehmigung zur Abbildung dieser Darstellung gab, hat das anschaulich gestaltet.

www.portal-sozialpolitik.de bietet eine interaktive Grafik zur Darstellung des Lohnabstands zwischen Bürgeld und Mindestlohn (Screenshot). © http://www.portal-sozialpolitik.de

Arbeit lohnt sich. Und wer sie noch lohnender gestalten will, der muss sich für höhere Löhne einsetzen. Denn niemand hat mehr, weil oder wenn Menschen in Armut noch weniger Geld erhalten.

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Portrait von Dr. Joachim Rock

Dr. Joachim Rock

Dr. Joachim Rock ist Leiter der Abteilung "Arbeit, Soziales und Europa" beim Paritätischen Gesamtverband.

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