Hervorgegangen aus einem Krankenhausfachverband hat sich der Paritätische zu einem der drei größten Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege entwickelt. Anfang der 1950er Jahre zählte der Paritätische Wohlfahrtsverband knapp 380 Mitgliedsorganisationen mit insgesamt rund 1.800 sozialen Einrichtungen. Knapp 30 Jahre später, 1979, waren es bereits über 2.400 Mitglieder, 1989 hatte sich diese Zahl auf rund 5.000 Mitglieder bereits mehr als verdoppelt und zwanzig Jahre später noch einmal eine glatte Verdoppelung – im Jahr 2009 begrüßte der Verband das 10.000ste Mitglied. Heute sind es knapp 10.700 rechtlich eigenständige, gemeinnützige Organisationen bundesweit, die unter dem Dach des Paritätischen organisiert sind. Mehr als 700.000 Menschen sind hauptamtlich in den mehr als 20.000 Einrichtungen beschäftigt – und noch mehr Menschen, engagieren sich ehrenamtlich und in der Selbsthilfe.

Die Mitgliederentwicklung spricht für den Verband. In der Aufnahmepolitik des Paritätischen, die vor allem charakterisiert ist durch eine Politik der Offenheit und des „Sich-Nicht-Verschließens“, und der Mitgliederentwicklung spiegeln sich letztlich stets auch gesellschaftliche Probleme und Interessen der jeweiligen Zeit wider. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand zunächst alles im Zeichen des Wiederaufbaus und der Rückkehr zur Normalität. Alle Wohlfahrtsorganisationen waren insbesondere mit der Linderung von Kriegsfolgen befasst. Die Freie Wohlfahrtspflege hatte ihren festen Platz im Sozialstaat und der Paritätische galt als „Sammelbecken der Versprengten“, die eben nicht AWO, nicht Caritas, DRK oder Diakonie waren. In den 1960er Jahren entwickelte sich der Paritätische zunehmend zu einem Dach für die neu entstehenden Initiativen von Bürger*innen, insbesondere in der Behindertenhilfe. Gleichzeitig wurde das Sozialsystem in Deutschland ausgebaut und die soziale Arbeit professionalisierte sich.

Neue Aufbrüche in den Siebzigern

Die 1970er Jahre brachten vor allem eins: Umbruch. „Chancengleichheit“, „Emanzipation“, „Alternative Lebensformen“ waren Schlagworte dieser Zeit, aber auch Krisen (Energie- und Staatskrise) und Arbeitslosigkeit bewegten das Land. Es kam Bewegung in die soziale Arbeit. Und der Paritätische wurde mit diesen Bewegungen schnell konfrontiert – denn alle diese neuen Gruppierungen drängten in den Verband, wie beispielsweise die neuen Eltern-Kind-Initiativen, die mit alternativen Pädagogikkonzepten und ihrem gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch Fachwelt und Praxis herausforderten. Die Grenzen und Schwächen der sozialen Sicherungssysteme wurden dann spätestens in den 1980ern angesichts von Massenarbeitslosigkeit, zunehmender Langzeitarbeitslosigkeit, empor schnellender Sozialhilfezahlen und demografischem Wandel erstmals mehr als deutlich spürbar. Erstmals war die Rede von der „neuen Armut“. Der soziale Problemdruck fand über Initiativen von Sozialhilfebezieher*innen und soziale Beschäftigungsinitiativen in den Verband. Auch Frauenhäuser und Fraueninitiativen sowie eine Vielzahl von Selbsthilfeinitiativen im Gesundheitsbereich (heute im Forum chronisch kranker und behinderter Menschen im Paritätischen organisiert) wurden in dieser Zeit Mitglied im Paritätischen und ließen den Verband politischer werden. Ein erster Armutsbericht wurde 1989 als sichtbarster und öffentlichkeitswirksamster Ausdruck dieser Entwicklung vorgelegt.

Offenheit, Toleranz, Vielfalt

Der Verband gab sich damals erstmals Verbandsgrundsätze. Es war durchaus diskutiert worden, gar keine weiteren Mitglieder aufzunehmen, aus Angst, der enorme Zulauf könnte den Verband überfordern. In den Verbandsgrundsätzen von 1989 bekennt sich der Paritätische schließlich jedoch klar zu Vielfalt und Offenheit. Erst die Offenheit, die Toleranz und das Zulassen der Vielfalt lösen notwendige gesellschaftliche Bewegungen aus und halten sie in Gang. Das waren die Einsichten, die in den Verbandsgrundsätzen festgeschrieben wurden – Einsichten, die bis heute nicht an Aktualität eingebüßt haben. Ganz im Gegenteil: In den letzten Jahrzehnten haben Tempo und Druck, auch auf die Freie Wohlfahrtspflege zugenommen. Wiedervereinigung, Globalisierung, Liberalisierung, Europäisierung, Digitalisierung. Die Einführung des Euro Ende der 1990er. Die Agenda 2010, die Probleme lösen sollte, stattdessen aber Armut manifestierte. Der Durchmarsch des Neoliberalismus nach der Wiedervereinigung, als Wettbewerb und Ökonomisierung in den 1990er Jahren auch in der Wohlfahrtspflege Einzug hielten, die sich plötzlich mit Problemen wie Preisdumping auseinandersetzen musste, während gleichzeitig politisch das Ehrenamt hofiert wurde. Die Globalisierung brachte immer wieder neue Widersprüche mit sich und heizte beispielsweise die Debatte um Migration und Integration an: Ist die Bundesrepublik ein Einwanderungsland und will sie es überhaupt sein? Selbstorganisationen der Migrant*innen entstanden und kamen in den Verband. Über 200 Migrant*innenorganisationen sind heute im 2007 gegründeten Forum der Migrant*innen im Paritätischen organisiert, um gemeinsam und selbst ihre Interessen zu vertreten.

Ein Verband, der immer in Bewegung ist

In den letzten fünf Jahren sind es u.a. Fragen der Demokratiearbeit, des Engagements gegen Rechts und für Menschenrechte, die neue Relevanz im Verband erhalten haben, aber auch mehr und mehr Organisationen und Initiativen mit sozial-ökologischer Expertise finden sich in der Mitgliedschaft. Schließlich kann der Verband immer mehr queere Mitgliedsorganisationen willkommen heißen, die sich für die Gleichberechtigung von Menschen verschiedener sexueller und geschlechtlicher Identitäten einsetzen. Und so halten Offenheit und Vielfalt den Verband letztlich bis heute jung und dynamisch.


Das Verbandsmagazin "Wir sind Parität!" des Paritätischen Gesamtverbandes © Der Paritätische

Dieser Artikel ist im Verbandsmagazin "Wir sind Parität!" des Paritätischen Gesamtverbandes erschienen.

In dieser Ausgabe dreht sich (fast) alles um uns selber. Wir schauen zurück auf die bewegte Geschichte des Verbandes, aber auch nach vorn in die Zukunft. Wir blätterten uns durch alte Ausgaben dieses Magazins, angefangen in den 50er Jahren und befragten ausführlich unseren stellvertretenden Vorsitzenden Josef Schädle, der den Paritätischen seit Jahrzehnten gut kennt und begleitet. In dieser Ausgabe finden sich allerlei interessante Zahlen und Fakten rund um den Verband, die Mitgliederentwicklung und seine Geschichte. Ulrich Schneider erzählt die Geschichte unserer prominentesten Publikation, dem Armutsbericht und Marion von zur Gathen schrieb darüber, wie im Haus Sonnenwinkel Kindern aus dem Moria-Lager geholfen wird. Außerdem gibt es wieder viele Infos und Neuigkeiten aus dem Gesamtverband. Außerdem stellen wir unsere Abteilungen und Serviceleistungen vor und haben Politiker*innen aller demokratischer Fraktionen im Bundestag um ein Statement zum Paritätischen gegeben.

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Gwendolyn Stilling

Gwendolyn Stilling leitet die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Presse, Redaktion und Kampagnen des Paritätischen Gesamtverbandes.

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