Soziale Ungleichheit bedeutet gesundheitliche Ungleichheit. Das Risiko einer Sars-Cov-2-Infektion betrifft zunächst potenziell alle. Aber die Todesopfer des Virus sind auffällig häufig Menschen aus vulnerablen Gruppen: Ältere, Chroniker*innen, spezifisch Vorerkrankte oder Menschen in ohnehin prekären wirtschaftlichen und sozialen Lebensumständen. Wie erleben nun diskriminierte, oft stigmatisierte Personen das vielbeschworene „Licht am Ende des Tunnels“ der Pandemie: das Thema Impfung? Zumal hier populistisch geschürte Ängste, Misstrauen oder gar Verschwörungsideologien längst in öffentlichen Debatten Raum greifen.

Kann man es einer geflüchteten alleinerziehenden Mutter aus Syrien oder Afghanistan übelnehmen, dass sie in Panik gerät, wenn „sich herumspricht“, dass die Impfung auch dazu dienen könnte, ihre Abschiebung zu erleichtern? Und wie muss es sich anfühlen, wenn die örtliche Tageszeitung formuliert: „Wer sich nicht an Corona-Regeln hält, sollte dadurch nicht auch noch durch bevorzugtes Impfen mit einem möglicherweise noch beliebteren Vakzin belohnt werden. Regeln und Reihenfolgen haben für alle gleichermaßen zu gelten, für Steuerzahler wie für Empfänger von Sozialleistungen oder Zuwanderer.“ Soweit die „Contra“-Stimme im redaktionsinternen Meinungsbild zum lokalen Aufhängerthema „Stadt impft 250 Bedürftige“ – unter der Fragestellung „Soll die Stadt in sozialen Brennpunkten impfen?“ (WAZ Bottrop, 25.05.’21)

Unsere Erfahrung ist, dass die Bevölkerungsgruppe, die von Armut und Ausgrenzung betroffen ist, von den Informationen über das Thema Impfung immer noch nicht genügend erreicht wird. Und es sind viele, die diese wichtigen Informationen dringend benötigen. Durch Halbwissen entstehen Ängste.

Eine unverzichtbare Rolle spielen daher vertraute Personen, die vor Ort über mögliche Risiken und über die jeweiligen Sachstände zum regionalen und kommunalen Impfverfahren aufklären und informieren. Wie funktioniert die Corona Warn App? Wie kann ich mich anstecken? Wie sollen wir uns schützen? Diese aktuellen, auch ortsbezogenen Informationen sind keinesfalls – wie tatsächlich in dem oben zitierten WAZ-Text angeführt – etwa über „Heimat-Medien“ zugänglich! Im Gegenteil: Dadurch, dass es unterschiedlichste nationale Strategien und Kampagnen gibt, verstärkt sich nur die Verunsicherung.

Wichtige gute Multiplikator*innen sind die eigenen Kinder und Enkelkinder. Sie können ihre gemachten Erfahrungen und Wahrnehmungen zu Hause an die anderen Generationen weitergeben. Aber selbst diese bewährten familiären Übersetzer*innen und Dolmetscher*innen können hier an die Grenzen ihrer Kompetenzen als Gesundheitsberater*innen stoßen. Umso wichtiger wäre es, diese Multiplikator*innen zu stärken. Gute Orte hierfür wären über die Schulen hinaus Jugend- und Stadtteilzentren, aber auch andere informelle Treffpunkte – die allerdings ihrerseits geöffnet und unter Einhaltung von Schutzkonzepten zugänglich sein müssen.

Jede Mitarbeiterin in unserer Beratungsstelle hat gute Voraussetzungen, über dieses angstbesetzte und zugleich komplexe Thema mit den Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, zu sprechen und Vertrauen in das Impfangebot zu vermitteln. Wenn eine vertraute und kompetente Beratungsperson mit den Menschen spricht, ist das Vertrauen in der Regel sehr schnell da. Nicht selten bedarf es dabei kaum hartnäckiger Überzeugungsarbeit. Das beiderseitige Vertrauensverhältnis auf Augenhöhe macht den Unterschied.

Eine weitere hoch vulnerable und sensible Gruppe bilden Menschen mit psychischen oder seelischen Störungen und Erkrankungen. Wenn sich in den Medien, beim Einkaufen, in der Nachbarschaft und in fast allen Alltagssituationen eine diffuse Atmosphäre der Sorge, der Angst und der auch wirtschaftlichen individuellen Existenzkrisen ausbreitet, hat dies fatale Folgen. Für Menschen, deren Problem bereits vor Corona in der Strukturierung und Organisation ihres Alltags gelegen hat, führt diese zusätzliche Verunsicherung zu einer bisher beispiellosen Belastung.

Dies betrifft auch das wichtige Vertrauensverhältnis in der psychosozialen Betreuung. Wenn behutsam vorbereitete Impftermine plötzlich abgesagt werden müssen, steht damit viel mehr auf dem Spiel als die Impfung. In einem konkreten Fall bedeutete dies, dass 180 psychisch belastete Personen eine kurzfristige Absage erhielten. Und zwar genau von den Vertrauenspersonen, die sie zur Impfung begleiten wollten, um ihnen Sicherheit zu geben.

Gerade in der Pandemie steht allen Beteiligten deutlich vor Augen, welchen Stellenwert persönliches Vertrauen für die Bewältigung von Krisen hat. Interessengeleitete Schuldzuweisungen und populistische Wahlkampfrhetorik, Halbwahrheiten oder gar gezielt Angst erzeugende Desinformation – nicht nur in den Sozialen Medien – treffen diejenigen am meisten, die auf besonderen Schutz, Unterstützung und Solidarität angewiesen sind. Jede vertrauensbildende Maßnahme ist dagegen ein sozialer Gewinn für alle.

 


Aktionskongress gegen Armut

Der Aktionskongress am 10., 11. und 12. Juni 2021 findet ausschließlich digital statt. Die Veranstaltung wird über die Videokonferenzsoftware Zoom organisiert.

Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung unter www.aktionskongress.de

 

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Portrait von Cornelia Kavermann

Cornelia Kavermann

Cornelia Kavermann ist Vorsitzende der Kreisgruppe des Paritätischen in Bottrop.

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