Etwa 300 klassische Zirkusunternehmen gibt es derzeit in Deutschland, die mit Wildtieren, Clowns und Artisten durch die Lande ziehen. Sie haben es zunehmend schwerer, gegen modernere Unterhaltungsformen anzukommen. Sein pädagogischer Ableger, der Kinderzirkus, erfreut sich hingegen immer größerer Beliebtheit. Bei ihnen stehen soziale Aspekte im Vordergrund, die Ausbeutung von Wildtieren beispielsweise wird deutlich ablehnt. Im Berliner Zirkus Cabuwazi ist die Warteliste ebenso lang wie im Lübecker Charivari.

Das Kreuzberger Cabuwazi-Zelt am Görlitzer Park © Thomas Kierok

Trotz bestem Frühsommerwetter ist das Rot-Gelbe Zirkuszelt am Rande des Görlitzer Parkes an diesem Nachmittag Anfang Juni in Berlin-Kreuzberg gut gefüllt. 12 Kinder im Grundschulalter, größtenteils Mädchen, wuseln unter dem blauen sternverzierten Dach umher. Heute ist Cabuwinzig angesagt, der Zirkus für die Kleineren. „Können wir heute Tuch machen?“ fragt ein Mädchen übereifrig und meint wohl das Sprungtuch. Erst einmal setzen sich alle im Kreis zusammen und auch ich soll mich kurz vorstellen. Erst jetzt fällt mir auf wie schwierig es ist, Kindern zu erklären, was denn dieser „Wohlfahrtsverband“ ist, bei dem ich arbeite. „Ich verstehe das nicht. Wo arbeitest du?“, fragt mich ein kleines Mädchen mit blonden Locken in einer Latzhose irritiert nach meiner Erklärung. In meinem Kopf rattert es. Behelfsmäßig erkläre ich, dass das so ein Verein ist, wo Cabuwazi Mitglied ist. Die Kleine ist zufrieden damit.

Doch ich ziehe mich zunächst einmal auf die Zuschauertribüne zurück. Den Kindern gehört die Manege. Es wird eine sehr große Luftmatratze aufgepumpt. Im ersten Spiel geht es um die Aufmerksamkeit der Kleinen. Die Trainerin ruft folgende Begriffe in den Raum: Limo, Popcorn, Zuckerwatte oder Kaugummi. Bei Popcorn hüpfen die Kinder auf der Matte, was eindeutig die beliebteste Disziplin ist, bei Kaugummi legt man sich auf auf dem Boden daneben, die Zuckerwatte dreht sich und Limonade hüpft neben der Matte wie Kohlensäure. Wenn eins der Kinder das Falsche darstellt, ist es raus. „Alle die raus sind, müssen in den Tigerkäfig“, heißt es von der Trainerin. Das ist aber keine Stillsitzstrafe, denn die Tiger dürfen zwischendurch auch mal die übrigen Kinder fangen.

Cabuwazi-Kids im Training © Marcel Wogram

In weiteren Übungen geht es offenbar um Koordinierung. Es wird etwa durch Reifen gehüpft und es werden Purzelbäume geschlagen. Vieles erinnert an den Sportunterricht, ist aber offener gestaltet. Nicht Drill und Disziplin stehen hier an erster Stelle. Wenn die Kinder mal auf eine Übung keine Lust haben oder eine Pause einlegen wollen, etwa um auf meinen Laptop zu schauen, ist das auch kein Problem. Das Konzept hat Schule gemacht. Zirkusangebote für Kinder gibt es inzwischen in fast jeder Stadt in Deutschland. Mal temporär in den Ferien, mal ganzjährig. Trix Langhans hat vor 15 Jahren den Zirkus Charivari in Lübeck gegründet. Als junger Mensch, so erzählt sie, wollte sie erst einmal die Welt verändern, erzählt sie am Telefon. Als sich das aber als schwierig herausstellte, beschloss sie, einen Zirkus zu gründen. „Das kommt dem am nächsten“ erklärt Langhans, die zuvor schon 10 Jahre Erfahrung als professionelle Seiltänzerin sammelte. Und was möchte sie mit dem Zirkus Charivari erreichen? „Mein Ziel ist es, eine Welt im Kleinen zu schaffen, wie sie im Großen sein sollte“, erklärt die Gründerin. In ihrem Zirkus könnten Menschen mit allen Besonderheiten zusammenkommen und auf engstem Raum zusammenleben. Denn Zirkus sei Raum für unterschiedlichste Persönlichkeiten und Fähigkeiten und auch Nationalitäten. „Es ist ein hoher Anspruch und großer Idealismus, aber dieses Erleben möchte ich gern weitergeben.“ Inzwischen gibt es neun Gruppen und über 100 Jugendliche.

Aus der Aufführung "Sea You" im Charivari

In Kreuzberg werde ich nach dem Training umringt von den Kindern. 100 sind es nicht, aber alle möchten mir gerne etwas sagen und versammeln sich um mein Mikrophon. Zunächst frage ich, wie sie denn in den zu Cabuwazi gekommen sind. „Ich glaube, meine Mama wollte einen Kurs finden, an dem ich Nachmittags teilnehmen kann. Und weil halt Lola dabei war“, sagt Mia und zeigt auf Lola. „Dann hat Mama  gesehen, dass noch Plätze frei sind und seitdem bin ich seit fünf Jahren hier.“ Hannes und Paul sind die einzigen Jungs in der Gruppe und betonen stolz, dass sie Zwillinge seien. „Also die Freundin von meiner Mama hat ein Kind das ist hier auch hingegangen. Die wohnt bei uns gegenüber“, erklärt mir Hannes. Sein Bruder Paul ergänzt, dass sie nach der Anmeldung drei Jahre warten mussten. Auch das berichten die meisten Kinder. Ein Mädchen namens Matthea musste sogar fünf Jahre warten. Viele Kinder berichten übereinstimmend, dass sie nach einer Aufführung, einer Zirkusfreizeit oder über gemeinsame Freunde zum Zirkus gekommen sind. Juma hat einen anderen Weg gefunden: „Ich habe mich schon immer für Akrobatik interessiert und meine Tante hat auch in einem Zirkus mitgemacht“ sagt sie mit fester Stimme. Und ob sie schon einmal aufgetreten sind? Klar! Cool sei das gewesen, erklärt mir eins der Mädchen. Man hätte sich das Programm selbst zusammenstellen können. Vorgegeben seien nur die Themen Feuer, Wasser und Wind. Sie selber hätte „Kugellaufen“ gemacht, also sich auf einem großen Ball fortbewegt. Kugellaufen ist der Hit im Kinderzirkus. Alle anderen Kinder bekommen auch gleich leuchtende Augen, als das Stichwort „Auftritt“ fällt.

Trix Langhans kann das auch für ihren Charivari-Zirkus bestätigen. Sie erzählt von ihrer letzten Aufführung: Sea You. Wie der Name vermuten lässt, wurde das Stück unter der Wasseroberfläche verortet. Außer dem Motto wird dabei nichts vorgegeben. Die Kinder schreiben die Projekthefte selber, nähen ihre eigenen Kostüme und sie gestalten ihre eigenen Nummern. „Sie fühlen sich ernst genommen, wenn sie selber gestalten dürfen. Das ist ganz wichtig“, erklärt Frau Langhans. Und jeder findet seinen Platz: „Selbst wenn man ein bisschen schwerer ist, ist man vielleicht ein guter Untermann in den Pyramiden.“

Wichtig ist Langhans dabei auch der Inklusionseffekt. Von 14 Artist*innen in Sea You hätten zwei eine sogenannte Schwerbehinderung. Ein Junge hätte Trisomie 21 und sehr viel Applaus für seine Aufführung bekommen. Ein Mädchen sei blind gewesen. Nach dem Stück wurde Trix Langhans gefragt, wer denn blind sei, erzählt sie und freut sich. „Und so soll es ja sein. Dass Menschen mit Behinderung nicht ausgestellt, sondern bei uns als strahlende Artistinnen und Artisten wahrgenommen werden.“ Im Charivari sei es wichtig, eine Bühne für Kinder zu bieten, die nicht nur auf der Sonnenseite des Lebens stehen: „Das Leben besteht nicht nur  aus Leistungsturnern und Menschen, die der Norm entsprechen.“

Kinder beim beliebten Kugellaufen im Cabuwazi © Marcel Wogram

Verena Schmidt hat ihr Büro in einem Zirkuswagen auf dem Gelände am Rande des Görlitzer Parkes. Sie ist die Standortleiterin in Kreuzberg bei Cabuwazi und wir unterhalten uns, als Cabuwinzig vorbei ist. Auch wenn die Kinder augenscheinlich viel Spaß an der Bewegung hatten, ist auch in Berlin das nicht das Wichtigste: „Am Ende geht es nicht darum, wer die beste, größte und tollste Leistung bringt und wer die meisten Tricks lernt.“, erklärt Frau Schmidt. Im Vordergrund steht, dass die Kinder selbst kreativ entwickeln, was sie dann aufführen möchten, aber auch Gemeinsamkeit spüren. „Es geht weniger um den sportlichen Wettbewerb und mehr um das kreative gemeinsame Gestalten.“ Zwang gibt es dabei keinen: „Wenn die mal keine Lust haben, ist das ja auch  ok.“

Das Interesse ist riesig. Bei Cabuwazi sind Wartezeiten von mehreren Jahren nicht selten und bei Charivari stehen inzwischen 100 Kinder auf der Warteliste. Aber woher kommt das? Warum ist die alte Institution Zirkus in einer Zeit, in der es so viele Ablenkungsmöglichkeiten und Technik gibt, immer noch so aktuell? Trix Langhans fallen mindestens zwei Gründe ein: Einerseits könnten die Kinder sich viel freier entfalten und kreativer sein als in vielen Sportvereinen. Andererseits bietet Zirkus auch Gemeinschaft.

Und natürlich zeigen, was man kann! „Die haben total Lust darauf, dass zu präsentieren, was sie gelernt haben“, erklärt Schmidt die Beliebtheit der Auftritte. Corona steckt vielen Kindern in den Knochen. Eine Zeit, in der sie ihre Bedürfnisse zurückhalten müssen. Jetzt gerade, wo ein halbwegs normales Leben in der bestehenden Pandemie möglich ist, bricht es aus ihnen heraus. Das bestätigt auch Trix Langhans aus Lübeck: „Ich glaube es ist immens wichtig, für Kinder und Jugendliche nach der Pandemie wieder sichtbar zu werden.“


Dieser Artikel ist im Verbandsmagazin "Wohlfahrt kreativ" des Paritätischen Gesamtverbandes erschienen.

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Portrait von Philipp Meinert

Philipp Meinert

Philipp Meinert verantwortet beim Paritätischen Gesamtverband den Bereich Presse und Redaktion. Für das Verbandsmagazin des Paritätischen Gesamtverbandes schreibt er Artikel und führt Interviews.

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