Der 29. September ist der nationale Tag des Flüchtlings und der von ProAsyl 1986 ins Leben gerufene Aktionstag könnte dringender nicht sein. Ein Blick auf die aktuelle Debatte und mögliche Auswege von Thorben Knobloch, Referent für Asylpolitik und -recht/Flüchtlingshilfe beim Paritätischen Gesamtverband.
Die seit Mitte des Jahres anhaltende Verschärfung des Diskurses rund um Migration und Flucht nimmt kein Ende. Mit einem „Machtwort“ hat Bundeskanzler Olaf Scholz den Weg frei gemacht für die massenhafte Inhaftierung Geflüchteter an den EU-Außengrenzen und die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes unter Umgehung der Genfer Flüchtlingskonvention in sogenannten sicheren Drittstaaten. Hierzulande aber auch international werden seit Wochen menschen- und völkerrechtliche Grundprinzipien offen in Frage gestellt oder Geflüchtete als Sozialschmarotzer gebrandmarkt.
Die jüngste Volte hat nun die Union mit ihrem Vorschlag eines „Deutschland-Pakts“ zur Bekämpfung „irregulärer Migration“ geschlagen. Wie beim sogenannten „Asylkompromiss“ 1993 wird ein überparteiliches Bündnis beschworen, das durch hartes Durchgreifen ein Ende der Probleme herbeiführen soll. Doch was 1993 noch eine Tragödie für den nationalen Flüchtlingsschutz war, ereignet sich 30 Jahre später nun als Farce. Die Union schlägt eine lange Liste von vermeintlichen Lösungen vor, die bei genauerer Betrachtung nichts an den vermeintlich zu hohen Zugangszahlen ändern werden. Weder stationäre Grenzkontrollen, das Einstellen der Bundesaufnahmeprogramme, die Umstellung auf Sachleistungen oder die Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten wird dazu führen, dass die Zahlen der in Deutschland um Asyl ersuchenden Personen zurückgehen wird.
Das Problem: Beim Thema Flucht gibt es keine kurzfristigen Lösungen, ohne zugleich das individuelle Recht auf Asyl und somit ein Teil des Wertefundaments der Bundesrepublik Deutschland wie auch der Europäischen Union über Bord zu werfen. Entsprechend wird Handlungsfähigkeit derzeit bloß simuliert. Solche auf kurze Sicht propagierten Scheinlösungen richten langfristig allerdings enormen Schaden an. Denn simulierte Handlungsfähigkeit erzeugt nur Unverständnis und Frustration, wenn sie sich am Ende des Tages als Schimäre herausstellt. Allerdings ist die Aufnahmekapazität einer Gesellschaft keine faktische Größe, sondern hängt vom Willen zur Aufnahme ab, der wiederum durch die politischen Akteure maßgeblich beeinflusst wird. Mit Scheinlösungen beraubt man sich somit letztlich der Ressourcen, um die zweifellos bestehenden Herausforderungen erfolgreich bewältigen zu können. Wie alle Umfragen zeigen, nützt die rhetorische Verschärfung vor allem einer Partei, der Alternative für Deutschland. So mächtig ist die Partei geworden, dass in Thüringen jüngst erste Versuche zu sehen waren, neue Mehrheiten unter Einbezug der Fraktion des als gesichert rechtsextrem eingestuften Landesverbands zu bilden.
Eines der zentralen Probleme der gegenwärtigen Debatte besteht darin, dass Handlungsfähigkeit zu eng, nämlich allein als Kontrolle gedacht wird: Kontrolle darüber wie viele kommen, Kontrolle darüber wer kommt. Allerdings gibt es geschichtlich kein politisches System, dass sich mittels der Verweigerung grundlegender Rechte als nachhaltig stabil ausgewiesen hätte. Nichts anderes aber wären beispielsweise die von der EU angestrebten Reformen in ihrer Konsequenz: Millionenfache Rechtsverweigerung, bei der Geflüchtete entweder in Lagern innerhalb oder außerhalb der EU vegetieren oder aber unter dem staatlichen Radar in einem Zustand völliger Entrechtung ihr Dasein fristen müssten. Wer nicht daran glaubt, dass sich Menschen langfristig in diese Verhältnisse fügen werden oder aber den dafür nötigen (moralischen oder finanziellen) Preis nicht zu zahlen bereit ist, wird einsehen müssen, dass diese Reform nicht das Ende, sondern bloß der Auftakt für wirkliche Veränderung sein kann.
Es braucht daher eine andere Perspektive auf die Handlungsfähigkeit eines Gemeinwesens, eine gestaltende Perspektive. Da ist zum einen die Bereitstellung sozialer Infrastruktur. Wer die Kommunen finanziell allein lässt, darf sich nicht wundern, wenn Alarm geschlagen wird und der Eindruck entsteht, Deutschland hätte seine Aufnahmekapazität überschritten. Es ist dringend angeraten, dass sich die politischen Akteure der Größenordnung der Aufgabe bewusst werden und in die soziale Infrastruktur investieren, die auch ohne den Zuzug von Geflüchteten unter Druck stehen würde. Seien es Kitaplätze, die Ausstattung von Schulen oder bezahlbarer Wohnraum, sei es die auskömmliche und vor allem nachhaltige Förderung von Beratungsstrukturen wie der MBE, der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge oder der Asylverfahrensberatung, sei es die Bereitstellung von Sprachkursen, Integrationskursen und Ausbildungsangeboten von Anfang an: Es braucht mehr Ressourcen für die soziale Infrastruktur, um die berechtigten Interessen aller erfüllen zu können!
Wer hier mit der schwarzen Null argumentiert, übergeht geflissentlich, dass für andere gesellschaftliche Aufgaben Sondervermögen und Fonds aufgesetzt werden können. Weshalb nicht auch für die unbestreitbar epochale Aufgabe, mit globalen Fluchtbewegungen gut zurecht zu kommen? Wobei hinzukommt, dass solche Investitionen nicht allein Geflüchteten, sondern allen zugutekommen würden, unter anderem auch dadurch, dass gute Integration von Anfang an auch dem Arbeits- und Fachkräftemangel entgegenwirken würde. Mag sein, dass die Effekte nicht unmittelbar sichtbar würden, ein wichtiges Signal wäre es dennoch: Wir sehen die Aufgabe, sind bereit, Geld in die Hand zu nehmen und die Herausforderung konstruktiv anzunehmen, statt den bereits Entrechteten den Zugang zu grundlegenden Rechten weiter zu verwehren. Es würde zudem populistischen Auslassungen wie den jüngsten Entgleisungen des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz vorbeugen, der die Frustration über Infrastrukturmängel bei der medizinischen Versorgung gegen den Flüchtlingsschutz auszuspielen versucht.
Handlungsfähigkeit als Gestaltung bedeutet auch, bei politischen Reformen grundsätzlich neu zu denken. Wer nicht auf massive Gewalt und Entrechtung setzen will, muss nach Lösungen suchen, denen Geflüchtete auch zustimmen können. Allein eine vernünftige Politik im Sinne eines tatsächlich auf Augenhöhe ausgehandelten Migrations- und Schutzregimes wird nachhaltig mit der epochalen Herausforderung von Migrations- und Fluchtbewegungen umgehen können. Hierzu zählen legale humanitäre Zugangswege bspw. über Aufnahmeprogramme, humanitäre Visa und den Familiennachzug. Es bedeutet aber auch, Geflüchtete in ihrer Handlungsfähigkeit ernst zu nehmen und sie mit Möglichkeiten auszustatten, statt sie durch Wohnsitzauflagen und Arbeitsverbote von Teilhabe auszuschließen. Mit Blick auf das internationale Migrationsgeschehen müssen solidarische und innovative Ansätze entwickelt werden, in denen Geflüchtete als politisch Gleiche ernst genommen und nicht bloß zu verwaltende Massen betrachtet werden.
Bei all dem muss das individuelle Recht auf Asyl, das Individuen davor bewahrt, Schutz allein auf Basis willkürlicher politischer Entscheidungen einzelner Staaten zu erhalten, erhalten bleiben. Es ist in seiner Struktur nicht von den Menschen- und Bürgerrechten zu unterscheiden, die im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert sind. Es schützt den Einzelnen vor staatlicher Willkür, wie es auch die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde, Recht auf freie persönliche Entfaltung oder die Meinungsfreiheit tun. Wer glaubt, das Individualrecht auf Asyl könne ohne Konsequenzen für die Grundfesten eines demokratischen Gemeinwesens abgeschafft werden, irrt. Es muss vielmehr Grundprinzip und Richtschnur aller Reformvorhaben sein.
Für all das muss letztlich viel politisches Kapital investiert und grundsätzlich gedacht werden. Es braucht den Willen, heute mitte- und langfristig in die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft für alle zu investieren. Es braucht eine überzeugende Vision für Reformen, ohne die bestehenden menschen- und völkerrechtlichen Errungenschaften aufzugeben. Es braucht, in anderen Worten, Politiker*innen, die ihr Handwerk nicht als bloße Blockade und zähneknirschendes Verkaufen fauler Kompromisse verstehen, sondern konstruktive und mutige Reformvorschläge präsentieren, in denen die Interessen aller zum höchstmöglichen Grad und gemäß ihrer Dringlichkeit abgebildet werden. Davon ist im gegenwärtigen Diskurs leider weit und breit nichts zu sehen.