Sehnsuchtsort ländlicher Raum? Während es immer mehr Menschen in die Städte treibt und der ländliche Raum vor großen strukturellen Herausforderungen steht, ist für Markus Kranich klar: Auf dem Land gibt es mehr Freiraum, seine Ideen zu verwirklichen, und das Leben ist im Gegensatz zur Stadt noch bezahlbar.

Der Vorsitzende der Sächsischen Bildungs-und Begegnungsstätte Windmühle Seifhennersdorf lacht, als er sich erinnert, wie er damals mit seiner Frau scherzte: „Dann können wir auch gleich wieder zurückziehen aufs Land. Dann können wir uns davon ein Haus kaufen, was wir hier an Miete zahlen müssen.“ Aus dem Witz wurde dann schon bald Ernst. Markus Kranich verabschiedete sich mit Mitte zwanzig nach dem Studium in Dresden vom Stadtleben und zog mit Frau und Kind zurück in das ländliche Heimatdorf in der Oberlausitz.

Junge Menschen verlassen das Dorf nach der Schule

Anders als Familie Kranich suchen die meisten jungen Menschen vom Land heutzutage eher den Weg in die Stadt. Man kennt die Berichte aus den Medien. Es ist vom flächendeckenden Phänomen der Landflucht die Rede, fehlenden Schulen, Arztpraxen und weiten Wegen. Für Seifhennersdorf gilt, was für viele Dörfer im ländlichen geprägten Raum in der ganzen Republik gilt: Die meisten jungen Menschen kehren nach dem Schulabschluss ihrer ländlichen Heimat den Rücken.

Eine Studie des RWI-Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung bestätigt diese Beobachtung. Forscher*innen untersuchten in der Studie die innerdeutsche Migration zwischen den Landkreisen und stellten fest, dass die wichtigsten Faktoren für eine Abwanderung aus dem ländlichen Raum die geringere Lohnhöhe und die Arbeitslosigkeitsrate sind. Die Ergebnisse sind deutlich: Bis Mitte der 2000er-Jahre war die Landbevölkerung im Schnitt sogar jünger als in der Stadt. Dann wendete sich der Trend: Nun verlassen immer mehr junge Erwachsene unter 30 Jahren das Land, während ältere und alte Menschen von der Stadt aufs Land ziehen. Auch eine aktuelle Erhebung des Ifo-Instituts bestätigt die Entwicklung und attestiert dem ländlichen Raum deutschlandweit einen wachsenden Bevölkerungsverlust, besonders stark ausgeprägt in Ostdeutschland.

Staatsrückzug führt zu Frust

Um das Dorfleben wieder attraktiver zu gestalten, sind Landespolitik und kommunale Stellen in vielfältiger Weise gefordert. Neben einer Verbesserung der Jobperspektiven sind auch ein ansprechendes kulturelles Angebot und Orte der Begegnung essentiell. Ob in der Prignitz, in Friesland oder im Erzgebirge – Menschen dürfen im ländlichen Raum nicht von kultureller Teilhabe ausgeschlossen werden. Denn Studien zeigen auch: Dort, wo sich der Staat merklich zurückzieht, entstehen oft Gefühle von Frust und Enttäuschung, die sich mitunter auch in antidemokratischen Sentiments und Rechtspopulismus kanalisieren können. Der Ergebnisse der „Mitte-Studie“ der der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen etwa, dass Gefühle politischer Machtlosigkeit und Orientierungslosigkeit zentrale Faktoren zur Festigung rechtspopulistischen Gedankenguts darstellen.

Ein lebendiges kulturelles Miteinander und das Engagement für die gemeinsame Sache können diesen Entwicklungen entgegenwirken. Markus Kranich erinnert an die schwierige Lage Anfang der 1990er-Jahre, als es bei der örtlichen Industrie in der Oberlausitz den Bach herunterging und die Stimmung bedrückt war: „Man brauchte Orte, wo man sich einbringen kann, wo man wer ist.“ Aus dem Vorstoß einiger entwickelte sich bald ein reges Vereinsleben rund um die Seifhennersdorfer Windmühle, die im ostsächsischen Dreiländereck zwischen Polen, Tschechien und Deutschland Begegnungen zwischen Ost und West ermöglichen sollte.

Markus Kranich, Vorsitzender von Windmühle Seifhennersdorf e.V. © Agata Melnyk

Polen, Tschechen und Deutsche gemeinsam in Workshops

Seitdem ist viel passiert: Heute ist die Windmühle ein wirtschaftlich organisierter Hotelbetrieb mit 26 Zimmern, aus dessen Einnahmen ein breites Angebot an Bildungs- und Kulturangeboten finanziert wird. Jährlich finden hier mittlerweile rund 180 Veranstaltungen statt: Vom beliebten Töpferkurs über diverse Malkurse bis hin zu Spinnabenden in der kalten Jahreszeit – hier ist die regionaltypische Handwerkstradition Dreh- und Angelpunkt des Kulturprogramms. Polnische, tschechische und deutschen Studierenden kommen darüber hinaus in Workshops und lernen alles rund um das regional typische Umgebindehaus und setzen sich so mit dem kulturellen Erbe der Region auseinander.

Natürlich steht die Kulturförderung in ländlichen Regionen im Gegensatz zur dichtbesiedelten Metropole auch vor besonderen Herausforderungen: Avantgarde-Projekte oder Nischensujets finden logischerweise im dünn besiedelten Raum deutlich weniger Anklang. Der Kulturort in Seifhennersdorf begegnet dieser Tatsache seit einigen Jahren kreativ und entwickelt Events, die Kunst und Kulinarisches miteinander verbinden. So führt etwa bei dem Theaterformat „Zu Gast bei Hofe“ eine Schauspielerin als Gräfin Cosel durch den Abend, während die Gäste ein barockes Vier-Gänge-Menü genießen.

Eine weitere Besonderheit ländlicher Kulturförderung besteht darin, dass sie noch stärker auf politikfeldübergreifende Ansätze angewiesen ist. Beispielsweise stehen Fragen im Raum wie: Können breite Bevölkerungsschichten kulturell teilhaben, wenn Kulturorte nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind? Oder: Wie kann die Digitalisierung vorangetrieben werden, um Räume für kreative Prozesse zu öffnen? Nicht selten springen zivilgesellschaftliche Akteur*innen dann ein und betrieben zum Beispiel Bürgerbusse und sorgen so selbst dafür, dass die Dorfbewohner*innen auch ohne eigenes Auto von A nach B kommen. Auch in Seifhennersdorf geht man innovativ mit dem Problem um und stellt bei Bedarf E-Bikes am Bahnhof zur Verfügung, um die Anreise per Zug besser zu ermöglichen.

Doch freiwilliges Engagement spielt nicht nur indirekt eine herausragende Rolle für die Strukturen rund um einen vielfältigen und lebendigen Kulturbetrieb. Noch bedeutsamer als in der Stadt ist das Ehrenamt auf dem Land, wo auch Einrichtungen wie Volkshochschulen, Kulturtreffs und Aufgaben der Denkmalpflege nicht selten freiwillig betrieben werden. Der starke Bezug zur Region und langjährige soziale Beziehungen ermöglichen im ländlichen Raum oft ein nachhaltiges und langfristigen Engagement in der Kulturszene.

Ohne den stetigen Einsatz der über 20 Freiwilligen könnte auch das vielfältige Kulturangebot in der Seifhennersdorfer Windmühle in dieser Form nicht bestehen. „Wenn wir die nicht mehr finden, dann geht unserem Konzept die Luft aus, weil wir keine professionellen Anleiterinnen und Anleiter bezahlen könnten.“ Viele Senior*innen werden aus dem Ruhestand heraus aktiv und tragen so zu einem lebendigen Kulturangebot bei. Aber auch jüngere Leute sprechen Markus Kranich in letzter Zeit vermehrt an: „Ich bin hoffnungsvoll, weil viele Leute in meinem Alter, die jetzt so um die 30 Jahre alt sind, in den vergangenen Monaten gesagt haben: Wir wollen Mitglied in eurem Verein werden!“

Neonazis das Bier wegkaufen

Es gibt viele positive Beispiele, die zeigen, „was das Land kann“: Menschen in Ostritz oder Themar schließen sich gegen Neonazis zusammen und kaufen koordiniert den Biervorrat leer, um den Rechten das Feiern zu verderben. Bürgerschaftliche Initiativen eröffnen alte Kinos oder ein Café in einem alten Bahnhof und schaffen so Orte des kulturellen Austauschs. Trotz und gerade wegen der verheerenden Auswirkungen des demografischen Wandels auf dem Land und den daraus entstehenden Herausforderungen für Gesellschaft und Politik, lohnt es sich also, genauer hinzuschauen. Trotz mangelnder Jobperspektiven, Schulschließungen und rechtspopulistischen Tendenzen kann der ländliche Raum als Sehnsuchtsort taugen, wenn in ihm kollektives Engagement auf regional zugeschnittene Konzepte der Kommunalpolitik trifft.


Das Verbandsmagazin "Stadt und Land" des Paritätischen Gesamtverbandes © Der Paritätische

Dieser Artikel ist im Verbandsmagazin "Stadt und Land" des Paritätischen Gesamtverbandes erschienen.

Wer mit offenen Augen durch unsere Städte geht, findet sie häufig: Einrichtungen der Wohlfahrt. Beratungsstellen, Kitas oder Senior*innenheime. Sie gehören ins Stadtbild. Aber wie sieht es in dünn besiedelten Gebieten aus? Darum dreht sich alles in der aktuellen Ausgabe unseres Verbandsmagazins "Stadt und Land."

Wir besuchen Internetkurse für Ältere, Arbeitsmarktinitiativen, Drogenhilfe und Schwangerschaftsberatungen - alles im ländlichen Raum. Wir fragen nach, welche Vor- aber auch Nachteile das Paritätische Arbeiten jenseits der Metropolen haben kann. Wir interviewen Paritäter*innen aus den Landesverbänden und Mitglieder aus der Migrationsberatung und stellen uns die Frage nach der kommunalen Daseinsvorsorge.

Außerdem berichten wir über Housing First, warum kleinere Krebsberatungsstellen aufatmen können und Inklusion in Corona-Zeiten besonders wichtig ist. Es gibt Details zur Kampagne "Hartzfacts"  und Neuigkeiten von unserem Digitalisierungsprojekt. Und natürlich informieren wir auch wieder über wichtige Termine und Neuerscheinungen.

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Autor*in

Portrait von Britta Steinwachs

Britta Steinwachs

Britta Steinwachs arbeitet beim Deutschen Engagementpreis, der vom Bündnis für Gemeinnützigkeit initiiert wird. Sie hospitierte von Juli bis Anfang August in der Pressestelle des Paritätischen Gesamtverbandes.

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