Von der Sucht wegzukommen ist schwer. Nicht wieder mit den Drogen anzufangen, ist ebenfalls schwer. In Hessen setzt das Projekt RequiSiT erfolgreich auf Improvisationstheater. Leiterin Nora Staeger erzählt von ihrem Herzensprojekt.

Frau Staeger, warum ist Theater spielen ein geeignetes Mittel zur Suchtprävention?

Theater spielen ist ein sehr gutes Instrument, um mehr Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein zu gewinnen und die Persönlichkeit zu stärken. Theater RequiSiT spielt Improvisationstheater – eine Kunstform, bei der man - im Gegensatz zu anderen Theaterformen - ohne vorgefertigten Text und einstudierte Rollen agiert, sozusagen: Ohne Netz und doppelten Boden. Daher eignet sich Improvisationstheater besonders gut für das Erlernen eines positiven sozialen Miteinanders im Alltag. Man lernt, dem Gegenüber seinen Raum zu geben, es wahrzunehmen, auf es einzugehen und es nicht zu blockieren. Zudem schöpft man Ideen aus sich selbst und aus dem Zusammenspiel mit dem Spielpartner. Das fördert einen vertrauensvollen Umgang sowie die eigene Kreativität und Spontanität. Improtheater bietet dem Einzelnen die Chance, sich spielerisch in verschiedenen Rollen auszuprobieren, unterschiedliche Seiten und Fähigkeiten an sich kennenzulernen und fördert somit das persönliche Wachstum.

Was zeichnet das Spiel vom Theater RequiSiT besonders aus und wie sieht so ein Tag mit Ihnen aus?

Die Mitarbeiter*innen von Theater RequiSiT e.V. sind alles ehemals suchtmittelabhängige Menschen, die auf eine lange Suchterfahrung zurückblicken, nach dem körperlichen Entzug eine Drogenentwöhnungstherapie abgeschlossen haben, dadurch über ein hohes Maß an Selbstreflektion verfügen und seit längerer Zeit clean sind. Das Besondere an unserem gemeinnützigen Verein ist, dass wir kein „Suchttheater“ spielen – wie man es vielleicht erwarten würde. RequiSiT führt seine Veranstaltungen vorwiegend an Schulen und Ausbildungsbetrieben durch und bringt bewusst keine Suchtthemen auf die Bühne. Es sollen keine Klischees abgebildet, sondern im Sinne der Suchtprävention ein angenehmes, respektvolles Setting auf Augenhöhe geschaffen werden. Durch das Improvisationstheater wird die vierte Wand durchbrochen, ein positiver Kontakt zum Publikum hergestellt und Vertrauen aufgebaut. Dieses Vertrauen hilft im zweiten Teil der Veranstaltung, in dem die Mitarbeiter*innen von RequiSiT mit den Jugendlichen ins Gespräch kommen und alle Fragen zum Thema Sucht und Abhängigkeit beantworten. Ziel ist es, die Jugendlichen für das Thema Sucht zu sensibilisieren und ihre Selbstreflexion darüber anzuregen. Parallel zu den Schülergruppen findet eine Diskussionsrunde zum Thema Sucht und Suchtprävention für Lehrkräfte statt. Dies ist unsere Tagesveranstaltung, mit der wir in ganz Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Bayern unterwegs sind.  

Ein weiteres Angebot von RequiSiT ist z.B. eine Projektwoche für Schulen, in der die Jugendlichen die Techniken des Improvisationstheaters erlernen und am Ende der Woche selbst vor Publikum auf der Bühne stehen. Diese Theatererfahrung bietet allen Beteiligten die Chance, an sich selbst zu wachsen sowie Ängste und Hemmungen abzubauen.

Neben der suchtpräventiven Arbeit für und mit Jugendlichen bietet unser Verein den Mitarbeitern – allesamt ehemals suchtmittelabhängige Menschen – die Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt sowie Stabilisierung und Rückfallprophylaxe. Wichtig wäre mir auch noch zu erwähnen, dass wir diese Arbeit aus eigener Kraft schaffen, sprich komplett ohne öffentliche Förderung auskommen müssen. RequiSiT lebt hauptsächlich von den Veranstaltungseinnahmen, ist jedoch - aufgrund des niedrigen Budgets der Schulen - zusätzlich auf Spenden und Förderungen angewiesen, um zu überleben.

Das Ensemble von RequiSiT

Wie kommen Sie an ihre Darsteller*innen bzw. wie kommen die zu Ihnen?

Theater RequiSiT e.V. entstand aus einem EU-Projekt heraus, damals angegliedert an die SiT e.V., Selbsthilfe im Taunus, bis wir 2012 eigenständig wurden. Das heißt, die Vernetzung mit verschiedenen Therapieeinrichtungen war damals schon gegeben. Dieser Kontakt besteht heute noch, sprich die Therapieeinrichtungen kennen RequiSiT und sind auch unsere Hauptrekrutierungsquellen. Unsere Mitarbeiter*innen müssen keine Theatererfahrung mitbringen. Wichtig ist, dass sie sich dazu entschieden haben, ein Leben ohne Abhängigkeit führen zu wollen und Lust darauf haben, mit/trotz ihrer Vergangenheit etwas Positives zu bewirken.

Welche Suchterfahrungen haben Ihre Mitarbeiter*innen?

Da ist allesmögliche dabei, viele waren auch mehrfachabhängig (polytoxikoman). Ob es Alkohol, Cannabis, Heroin, Kokain, Chrystal-Meth, Speed, Amphetamine, Ecstasy, Glücksspielsucht, Computerspielsucht etc. war, für die von Authentizität geprägten Gespräche mit den Jugendlichen ist es weniger wichtig, von welchem Stoff oder Verhalten man abhängig war, sondern eher, zu verstehen, was es bedeutet, ein fremdbestimmtes Leben in Abhängigkeit zu führen. Es geht mehr um die psychosoziale Seite der Sucht und darum, zu erfahren, wie ich mich schützen kann und wie und wo ich mir Hilfe holen kann.

Sie sind ja studierte Diplom- und Theaterpädagogin. Wollten Sie schon immer in den Suchtbereich gehen oder hat sich das so ergeben?

Ich habe schon an der Uni Theaterseminare besucht und auch in einer freien Gruppe mitgespielt. Zudem habe ich mich in meinem Studium der Erziehungswissenschaften bereits mit dem Thema Sucht und Drogen auseinandergesetzt und z.B. an einer Exkursion nach Amsterdam zum Thema teilgenommen.

Somit war mein Interesse für beide Bereiche bereits vorhanden. Aber dass ich einmal die Chance bekommen sollte, beides in einer Beschäftigung zu vereinen, das hätte ich mir nicht träumen lassen. Eigentlich bin ich wie die Jungfrau zum Kinde zu RequiSiT gekommen. Da ich bereits zuvor ein EU-Projekt geleitet hatte, verfügte ich über Erfahrung in der Antragstellung. Somit konnte ich der SiT helfen, den Projektantrag zu stellen und nach Genehmigung am Aufbau von RequiSiT mitzuarbeiten. Und noch heute bin ich mit vollem Herzblut dabei.

Nora Staeger

Nun gibt es RequiSiT schon sehr lange. Welche Aufführung ist Ihnen in all den Jahren besonders in Erinnerung geblieben?

Was mir am meisten in Erinnerung geblieben ist, war eine Wochenveranstaltung im Odenwald in Wald-Michelbach an einem Gymnasium vor längerer Zeit. Wir haben eine Woche lang mit einer Gruppe gearbeitet. Da war ein Mädchen, das wirklich gemobbt wurde. Sie war Außenseiterin, relativ kräftig und hatte Akne. Man hatte das Gefühl, dass keiner mit ihr was zu tun haben wollte. Sie hat aber mitgemacht und wir haben es auch geschafft, sie zu integrieren. Zum Schluss hat sie auf der Bühne eine Gefühlsszene gespielt. Das ist eine neutrale Szene, die in einem negativen und einem positiven Gefühl wiederholt wird. Ihr positives Gefühl war „geil“ und sie hat dafür tatsächlich Standing Ovations bekommen. Das war Gänsehaut pur und ich bin 100%ig davon überzeugt, dass dieser Moment ihr Leben verändert hat.

Und was mir natürlich immer in Erinnerung bleibt, sind meine eigenen Mitarbeiter, die aus der Therapieeinrichtung kommen. Sie sind zunächst meistens sehr eingeschüchtert und sehr unsicher. Oft das erste Mal drogenfrei, ohne Arbeit und festen Platz in der Gesellschaft. Dann stehen sie vor einem und können sich nicht vorstellen, irgendwann wirklich auf der Bühne zu stehen. Innerhalb kürzester Zeit sind die Ängste verschwunden und ich darf sie wachsen sehen. Das ist großartig!

Die Fragen stellte Philipp Meinert


Drogen sind Teil unserer Lebensrealität. In Maßen können sie unproblematisch sein. Die Zigarette in der Pause beispielsweise ist ungesund, aber nicht so problematisch wie eine Pfeife mit Crystal Meth. Wenn der Konsum das Leben (fremd-)bestimmt, muss Hilfe her. Hier haben Paritätische Einrichtungen eine große Auswahl an Hilfsmöglichkeiten. Um die geht es in dieser Ausgabe unseres digitalen Mitgliedermagazins.

Wir besuchen Druckräume, Technopartys und Einrichtungen der Drogenhilfe. Wir sprechen mit Rhobbin, der mit der Selbsthilfe clean geworden ist und es bleibt, und mit FitKids, die sich um die Kinder süchtiger Eltern kümmern. Einen Blick auf die Gegenwart der Cannabisdebatte werfen wir ebenso wie in die Zukunft der Suchthilfe mit DigiSucht. Der Popstar Max Mutzke gewährte uns besonders private Eindrücke in sein Leben als Kind einer alkoholkranken Mutter. Und Paritätische Einrichtungen aus der Suchthilfe stellen sich selbst vor.

Und auch zahlreiche Neuigkeiten aus dem Gesamtverband gibt es, etwa das neue Projekt "Ausgefaked!" Jetzt gleich reinblättern!

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Portrait von Philipp Meinert

Philipp Meinert

Philipp Meinert verantwortet beim Paritätischen Gesamtverband den Bereich Presse und Redaktion. Für das Verbandsmagazin des Paritätischen Gesamtverbandes schreibt er Artikel und führt Interviews.

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