Eigentlich sollten alle pflegebedürftigen Menschen gleichbehandelt werden. In der Praxis sieht das leider nicht immer so aus. HIV und Suchterkrankungen sind bis heute stigmatisiert und Menschen, die darunter leiden, die zweite Klasse. Anders ist es beim FELIX Pflegeteam. Stigmatisierung wird hier der Kampf angesagt.

Der FELIX Pflegeteam Standort Kreuzberg, sitzt im Erdgeschoss, in einem von mehreren betreuten Wohngebäuden der Zuhause im Kiez gGmbH (kurz ZiK), einem Eingliederungshilfeträger und direkter Kooperationspartner von FELIX. Die Räumlichkeiten in der Reichenberger Straße 131 unterscheiden sich baulich kaum von denen einer Pflegeeinrichtung, das Gebäude wurde vorn vornherein auf pflegebedürftige Personen zugeschnitten. Von den langen Gängen zweigen sich die Zimmer oder die kleinen Wohnungen der Bewohner*innen ab. Es stehen große Küchen zum gemeinsamen Verweilen und Kochen sowie Balkone mit Blick auf die Berliner Altbauten auf allen Etagen zur Verfügung. Nur die zahlreichen Pride-Fahnen und -Aufkleber lassen darauf schließen, dass man hier nicht in einem beliebigen Berliner Wohngebäude ist.

Was hier anders gemacht wird, erklärt Martin Mehlich. Er arbeitet seit 12 Jahren beim FELIX Pflegeteam und ist seit drei Jahren als Teamleiter am Standort Kreuzberg. Dass er seine Lehre als Gesundheits- und Krankenpfleger nicht vorzeitig beendet, war nicht immer klar, denn Mehlich war über den Umgang, durch das medizinische Personal mit HIV- und Suchtpatient*innen an seiner Ausbildungsstelle erschrocken, so dass er erwägte, die Ausbildung hinzuschmeißen. Selbst erfahrene Pflegekräfte hätten es vermieden, HIV-Patient*innen die Hand zu schütteln, obwohl man seit Jahrzehnten weiß, dass HIV bei einem Händedruck nicht übertragen werden kann. Ähnliche Ignoranz erlebte er bei den Suchtpatient*innen: „Ich habe öfter den Satz gehört, dass der Alki einfach mal aufhören müsse zu trinken und dann habe er kein Alkoholproblem mehr.“

Dass Mehlich dennoch Pfleger mit Begeisterung wurde, lag an Stephan Lehmann, Standortleiter des Standorts im Wedding. Dieser hielt während seiner Ausbildung einen Vortrag, den Martin Mehlich noch in bester Erinnerung hat: „Schon damals imponierte mir das Bild von Pflege, dass er darstellte und welches mir damals in der Ausbildung nicht begegnete.“ Lehmann trat Menschen mit HIV, Sucht- oder psychischen Erkrankungen auf Augenhöhe gegenüber. Auch arbeite man bei FELIX untereinander deutlich hierarchiefreier. Für Mehlich war klar: Er musste zu FELIX.

Martin Mehlich

Was ist anders in der Pflege bei FELIX im Vergleich zur Situation in Mehlichs Ausbildungsstätte? „Genau genommen machen wir gar nichts anders als andere. Der einzige Unterschied ist, dass wir den Pflegenden anders begegnen.“ Selbstverständlich benötigt jede Erkrankung eine andere Form von Pflege und vergleichsweise junge HIV-Patient*innen benötigen eine andere Zuwendung als alte Menschen mit geriatrischen Gebrechen. Im Umgang unterscheidet man sich aber nicht voneinander.

Einen entscheidenden Unterschied im Pfleger-Patient-Verhältnis gibt es dennoch: Gerade Menschen mit Sucht- und psychischen Erkrankungen haben ihre eigenen tragischen Geschichten und wurden oft von Freunden und Verwandten im Stich gelassen. Die Pflegerinnen und Pfleger bei FELIX sind oft auch Bezugspersonen, nicht nur Menschen, die waschen und Nahrung anreichen. „Für manche bilden wir das soziale Umfeld, obwohl wir der Pflegedienst sind. Das ist nochmal etwas spezielles“, gibt Martin Mehlich zu bedenken.

FELIX gründet sich in zwei Unternehmen. Zum einen in HIV e.V., einen in den achtziger Jahren entstandenem Pflegedienst, der sich als erstes Unternehmen in Deutschland, auf die Versorgung von HIV-Patient*innen im Vollbild AIDS spezialisiert hatte und FELIX in der ursprünglichen Form, als Pflegedienst, gegründet von der BAH, mit der gleichen Zielgruppe. Die HIV-Diagnose galt zu dieser Zeit noch als Todesurteil, Medikamente gab es nicht und die Pflege war immer palliativ, also die Pflege bis zum sicheren Tod. Das Angebot galt für schwule Männer, die nur von Männern versorgt wurden.

Heute ist HIV längst kein Todesurteil mehr. Medikamente halten die Viruslast im Blut so gering, dass die Infektion nicht mehr nachweisbar ist. Das Vollbild AIDS ist selten geworden. 2005 fusionierten beide Unternehmen und man stellte sich breiter auf. Aus der einst reinen Palliativpflege wurde nach und nach eine fast normale Schwerpunktpflege für Patient*innen mit HIV, Hep., Sucht und/oder psychischen Erkrankungen.

Einer davon ist Klaus. Klaus ist seit einigen Wochen in der Pflege. Bei der Frage, was er bisher so in seinem Leben gemacht hat, muss der 69-Jährige erst lachen und sagt dann: „Ich war Junkie!“ 25 Jahre habe er Drogen konsumiert, saß auch immer wieder wegen Beschaffungskriminalität im Gefängnis. Klaus leidet sichtbar unter den Folgen des langen Konsums. In seiner Mobilität ist er eingeschränkt, geht an zwei Krücken. Martin Mehlich wird später erzählen, dass Klaus bei seiner Ankunft bettlägerig war und bereits in der kurzen Zeit bei Felix gewaltige Fortschritte gemacht hat. Nach einem Sturz hat seine Frau ihn hierhergebracht: „Ich bin dummerweise von der Leiter gefallen.“ Eigentlich sollte ihm sogar der Fuß abgenommen werden, was aber verhindert werden konnte. Nun bewegt sich Klaus souverän mit seinen Gehhilfen über die Gänge des Heimes.

Seine Einlieferung hat er nicht mehr mitbekommen. Heute schläft er viel. Manchmal sei es ein bisschen langweilig, aber irgendwie bekäme er den Tag schon rum. Bei Felix schätzt er die Freiheit. „Man hat hier keine Probleme. Hier wird man zu nichts gezwungen. Alles ist auf freiwilliger Basis. Das finde ich ganz gut.“

Diese Offenheit gegenüber den Patient*innen, vermisst Martin Mehlich in der Gesellschaft noch. „Die Vorurteile sind immer noch da. Der Fokus hat sich geändert“, meint er. AIDS und HIV gilt als die „Schwulenkrankheit“, die sie nie war. Schon immer konnte es alle Menschen treffen, aber das hat sich selbst über 40 Jahre nach der ersten Diagnose noch nicht durchgesetzt. Ähnlich stigmatisiert sind weiterhin Suchterkrankungen. Einzig durch den Umgang einiger Prominenter mit Depressionserkrankungen verändert sich das Bild über psychische Leiden nach und nach. Das spiegelt sich auch in anderen Bereichen, so Martin Mehlich: „Du hast immer das Gefühl, dass das Gesundheitssystem nicht weiterzieht.“ Es bleibt also zu hoffen, dass das System FELIX noch mehr Schule macht.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in unserem aktuellen Verbandsmagazin zum Thema: Pflege. 2021 waren knapp fünf Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Angesichts einer älter werdenden Gesellschaft wird diese Zahl immer weiter zunehmen. Das stellt die gesamte Gesellschaft vor Herausforderungen. Es fehlt an Personal, an Geld und an barrierefreien Wohnungen und auch die Folgen der Corona-Krise sind immer noch spürbar.

Als Paritätischer Gesamtverband vertreten wir zahlreiche Einrichtungen, in denen jeden Tag mit Professionalität, Liebe und Aufopferung Menschen gepflegt werden. Pflege ist mehr als waschen und füttern. Es bedeutet, sich um jemanden zu kümmern, ihm oder ihr Sicherheit zu geben und ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Und manchmal auch einfach menschliche Nähe zu geben.

In diesem Magazin schauen wir auf die Vielfalt der Pflege, denn kein "Pflegefall" ist wie der andere. Dazu schauen wir, welche Alternativen es zur klassischen Heimpflege gibt, wie Senior*innen in Einrichtungen vor Hitze besser geschützt werden können und wie respektvolle Pflege stigmatisierter Menschen funktioniert. Außerdem fragen wir, wie Migrant*innen der Pflegeberuf attraktiv gemacht werden kann und wie die Digitalisierung im Pflegealltag helfen kann. Und wir sagen, warum wir als Paritätischer für die Pflegevollversicherung sind und was das ist.

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Portrait von Philipp Meinert

Philipp Meinert

Philipp Meinert verantwortet beim Paritätischen Gesamtverband den Bereich Presse und Redaktion. Für das Verbandsmagazin des Paritätischen Gesamtverbandes schreibt er Artikel und führt Interviews.

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