Treppen, Bordsteine, herumliegende Gegenstände auf dem Gehweg. Achtlos steigen viele darüber hinweg, doch für Menschen im Rollstuhl kann dies darüber entscheiden, wie frei sie sich im öffentlichen Raum bewegen können. Dunja Reichert sitzt im Rollstuhl und ist stellvertretende Landesvorsitzende im saarländischen Landesverband des Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter. Sie erzählte uns, auf welche Hindernisse sie im Alltag stößt und wie man diese beseitigen könnte.

Die Probleme beginnen schon, wenn Frau Reichert das Haus verlässt. Die Bushaltestelle bei ihr um die Ecke ist nicht barrierefrei ausgestaltet. Dazu muss jedes Mal der Fahrer aussteigen und von Hand eine Rampe herunterklappen, die dann viel zu steil ist. Mit ihrem umgebauten Auto geht es besser, aber da kommt die Parkplatzsituation ins Spiel. „Behindertenstellplätze werden häufig von Leuten zugeparkt, die dann ‚nur kurz‘ was einkaufen möchten“, erklärt Dunja Reichert in unserem Videocall. Daher sei es schwierig für sie, einen geeigneten Parkplatz zu finden, aus dem sie auch überhaupt mit dem Rollstuhl aussteigen könne.

Mehrfach schon hat Dunja Reichert nichtbehinderte Menschen, die Behindertenparkplätze zuparken, angesprochen. Die Reaktionen sind unterschiedlich: „Es gibt Leute, denen ist es wahnsinnig unangenehm, wenn man sie darauf anspricht. Manche rechtfertigen sich dann auch. Sie hätten selbst Probleme und könnten nicht so gut laufen. Und dann gibt es natürlich die, die es nicht interessiert.“ Kontrolliert wird es sowieso kaum und die Bußgelder seien zu gering. Und manchmal sei es sogar billiger, den ganzen Tag auf dem Behindertenparkplatz zu stehen als in einem teuren privaten Parkhaus.

Der Barriereklassiker im öffentlichen Raum ist natürlich der Bordstein. Dabei ist Dunja Reichert noch in einer vergleichsweise bequemen Position: „Ich bin recht fit und bin nur ab der Hüfte gelähmt. Ich kann meinen Rollstuhl ankippen.“ Trotzdem würde sie eine Absenkung natürlich begrüßen. Zu kämpfen haben Rollstuhlfahrer*innen auch oft mit dem Bodenbelag. „Hier in Saarbrücken gibt es den Sankt Johanner Markt mit übelstem Kopfsteinpflaster.“ Was oft schön rustikal aussieht, erweist sich für viele als sehr unpraktisch. Die ganze Zeit müsse sie mit den Augen auf dem Boden bleiben, um nirgendwo hängen zu bleiben, erklärt Frau Reichert.

Und wenn sie mal irgendwo rein möchte, geht das auch nicht ohne weiteres. Nicht alle Geschäfte sind barrierefrei zugänglich und oft müsse sie Menschen bitten, etwas aus den oberen Regalen zu holen. In Bekleidungsgeschäften ist sie oft verloren zwischen den eng gestellten Kleiderspinnen, denn darüber schauen kann sie ja nicht: „Da verliere schon manchmal die Orientierung und weiß nicht mehr, wo ich hergekommen bin“, lacht sie.

Dunja Reichert

Versuche, die Situation zu ändern, gibt es durchaus. Seit etwa 20 Jahren versuchen Gesetze, die Benachteiligungen juristisch auszugleichen. Die juristische Theorie ist aber oft eine andere als die Praxis. „Oft sind es nur Lippenbekenntnisse, weil letztendlich das Bewusstsein fehlt“, stellt Frau Reichert immer wieder fest. Sie wünsche sich eine Stadt für alle, aber daran hapert es noch. „Ich möchte mal ein konkretes Beispiel nennen,“ führt sie weiter aus. „Im letzten Jahr wurde hier ein neues Impfzentrum durch die Stadt eröffnet. Und obwohl wir seit etwa 35 Jahren einen städtischen Behindertenbeirat haben, wurde dies in einem Gebäude mit fünf Stufen dran eröffnet.“ Wenn man die Verantwortlichen darauf anspräche, würden die darauf verweisen, dass man nichts besseres gefunden hätte und es würden ja sicher Leute helfen, wenn Rollstuhlfahrer*innen kommen. „Aber ein Mensch mit einem Hilfsmittel möchte nicht getragen werden, sondern wie jeder andere auch ohne fremde Hilfe da rein,“ sagt Dunja Reichert energisch.

Zum BSK kam Dunja Reichert über einen Behindertenbeauftragten im Saarland, den sie auf einer Konferenz kennenlernte: „Der fragte mich, ob ich nicht im ganzen Saarland anstatt nur in Saarbrücken aktiv werden möchte.“ Und so engagiert sie sich schon seit 10 Jahren im ganzen Bundesland, hauptsächlich für die körperlichen, aber auch jegliche andere Art von Behinderungen.

Der BSK ist ein Selbsthilfeverband. Aber wie kann die Selbsthilfe Barrieren abbauen? Indem sie Menschen mit Behinderung empowert, erklärt Frau Reichert: “Die Selbsthilfe hilft dabei, Menschen die in der gleichen Situation sind, über ihre Rechte zu beraten und Hilfestellung zu geben.“ Viele geben angesichts bürokratischer Hürden schnell auf, hier kommt der BSK ins Spiel. Aber der BSK bringt sich auch in Verfahren ein: „Wir gehen auch aktiv auf Kommunen zu. Wenn wir sehen, dass es einen Bebauungsplan gibt, versuchen wir schon in die Vorplanung zu kommen.“ Ein Antrags-, Stimm- oder Rederecht hat Frau Reichert leider nicht, aber die besseren Argumente und viel Ausdauer.

Informationsvideo des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV) zu E-Rollern auf YouTube.


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Philipp Meinert

Philipp Meinert verantwortet beim Paritätischen Gesamtverband den Bereich Presse und Redaktion. Für das Verbandsmagazin des Paritätischen Gesamtverbandes schreibt er Artikel und führt Interviews.

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