Wenn ältere Menschen pflegebedürftig werden und die Verwandten sich nicht kümmern können, ist der Gang in ein Heim für viele Menschen eine logische Konsequenz. Doch es gibt Alternativen. Herbstzeit vermittelt ältere Leute in Pflegefamilien. Wir sprachen darüber mit Geschäftsführerin Heike Schaal.

Frau Schaal, können Sie mir erklären, warum und mit welcher Intention „Herbstzeit“ entstanden ist?

Mein Mann und ich haben vor der Gründung von „Herbstzeit“ ein Betreutes Wohnen für psychisch kranke Menschen jeden Alters aufgebaut. Damals war ich aber noch angestellt und der Fokus lag ganz klar auf psychischen Erkrankungen. In Ravensburg gab es aber auch noch ein Modellprojekt, bei dem Wohnen in Familien für Demenzkranke angeboten wurde. Wir wollten es dann mit „Herbstzeit“ für das ganze Spektrum älterer Menschen unabhängig von Erkrankungen als Alternative zum Pflegeheim anbieten. Dann haben wir nach längerer Suche einen Verein hier im Landkreis gefunden, der das Konzept mit uns anbieten möchte. 2008 haben wir eine gemeinnützige GmbH gegründet. Mit der Idee, ältere Menschen in private Pflegefamilien unterzubringen sind wir auch relativ einzigartig in ganz Deutschland. Inzwischen haben wir ein Team von sechs Leuten, die in den beiden Landkreisen Ortenau und Emmendingen tätig sind. Inzwischen bieten wir übrigens auch kurzzeitige Pflege an.

Welche Vor- und welche Nachteile hat das Konzept von Herbstzeit gegenüber den gängigen Pflegeheimen.

Vorweggesagt: Pflegeheime sind wichtige Einrichtungen. Mir geht es aber darum, dass man Wahlmöglichkeiten im Alter hat. Manche fühlen sich im Heim wunderbar aufgehoben und wollen so eine persönliche Pflege, wie wir sie bieten, auch gar nicht. Andere können sich wiederum den Aufenthalt im Pflegeheim gar nicht vorstellen. Wir wollen in der Pflegelandschaft ein Baustein sein.

Wir bieten meistens eine Betreuung eins zu eins, wobei viele Familien ja nicht nur aus einer Person bestehen und, wenn es passt auch zwei Bewohner*innen aufnehmen können. Eigentlich bieten wir den Normalzustand an: Zwei Drittel aller Menschen werden privat gepflegt. Man liest ja immer so viel über Pflegeheime und denkt, die meisten Pflegebedürftigen sind in einem Heim, aber das stimmt gar nicht. Der Vorteil bei „Herbstzeit“ ist, dass die Gastfamilien kontinuierlich begleitet und betreut werden.

Eine Pflegefamilie bietet auch eine andere Umgebung. Im Heim geht es oft um wenige Themen. Wann kommt das Essen oder wer ist im Nachbarzimmer gestorben? Bei uns bekommt man das gesamte Spektrum des Familienlebens mit, wenn zum Beispiel die Tochter mal eine schlechte Note heimgebracht hat. Da kann man auch als alter Mensch mitsprechen. Und im Pflegeheim ist es aufgrund des Personalschlüssels so, dass die mit dem meisten Betreuungsbedarf die meiste Aufmerksamkeit bekommen. Die anderen müssen da zurückstecken.

Heike Schaal von Herbstzeit

Was macht „Herbstzeit“ eigentlich genau? Sind sie eine Vermittlungsagentur?

Unser Hauptgeschäft geht über die Vermittlung hinaus. Die steht natürlich am Anfang. Wir werben Gastfamilien, sprechen mit ihnen und machen Hausbesuche. Wir erstellen ein Profil um zu schauen, wer in die Familie passt. Auch welche Bewohner*innen wohin passen. Dann machen wir eine Zuordnung und es gibt ein Kennenlernen in unserer Begleitung. Wenn alles passt, folgt für ein paar Wochen ein Probewohnen. Natürlich klären wir auch die Finanzierung der Pflege für Angehörige aber auch für die Pflegefamilien. Wir übernehmen alles mit der Pflegekasse, die Gastfamilie halten wir da komplett raus. Wenn das alles klappt, zieht jemand bei der Familie ein. Wir stehen aber weiterhin als Ansprechpartner zur Verfügung, sowohl für Familie als auch Bewohner*in und hören zu, was es noch braucht oder beraten sie, auch bei Konflikten. Wir sind Sozialarbeiter*innen, teilweise mit Zusatzausbildung in Familientherapie oder pflegerischer Erstausbildung, die dann Konfliktgespräche führen können. Für die Familien sind wir im Notfall auch am Wochenende oder abends zu erreichen. Das wird selten wirklich gebraucht, aber wichtig ist für uns, dass die Familie das Gefühl hat, dass sie eng und gut begleitet wird und bei jedem Problem auf uns zurückgreifen kann. Wir möchten ja auch, dass die Familien lange dabei bleiben, oder dass wenn das Betreuungsverhältnis aus welchen Gründen auch immer zu Ende ist, sie zur Wiederholungsfamilie werden und wieder jemanden aufnehmen. Übrigens: Die Familien haben auch einen Anspruch auf bewohnerfreie Zeit im Jahr, damit sie in den Urlaub fahren können.

Welche Familien bewerben sich bei „Herbstzeit“ so und was ist deren Motivation, eine pflegebedürftige Person aufzunehmen?

Wir lassen immer Fragebögen ausfüllen, in denen wir auch die Motivation abfragen. Oft haben viele Bewerber*innen bereits gute Erfahrungen in der Pflege gemacht oder wollen sich sozial engagieren. Wenn sie mutig sind schreiben sie noch dazu, dass sie was dazu verdienen wollen. (lacht). Das schreiben nicht alle. Die besten Bewerbungen für uns sind diejenigen die sagen, dass sie was dazu verdienen und helfen wollen. Die geben nicht bei der ersten Schwierigkeit auf. Es gibt ja auch Bewohner, die „stinkstiefelig" und nicht jeden Tag dankbar sind. Solche haben wir natürlich auch. Wenn jemand aber meint, man will unabhängig vom Geld nur helfen, aber der Bewohner oder die Bewohnerin lässt sich nicht so helfen, wie ich mir das wünsche und ist nicht so dankbar, geben sie auch schnell auf. Viele Bewerber*innen haben auch einen pflegerischen Hintergrund, kommen also entweder selbst aus der Altenpflege, haben vielleicht Zeit oder wollen nicht mehr in einem Pflegebetrieb mit vielen Patient*innen arbeiten. Oder manche haben zum Beispiel schon ihre Mutter gepflegt und nachdem sie verstorben ist, ist ein pflegegerecht umgebautes Bad oder ein Pflegebett ungenutzt daheim. Es ist sehr vielschichtig.

Welche Rolle wird so ein Konzept wie Ihres in der Pflege der Zukunft spielen?

Das ist eine spannende Frage. Bundesweit nehmen wir den Trend wahr, dass weniger in der Familie gepflegt wird –  ohne das werten zu wollen: Die klassische Familie kommt seltener vor, viele arbeiten statt daheim zu bleiben. Wir brauchen ganz viele Modelle in der Altenpflege. Allein mit Heimen werden wir das nicht geregelt bekommen. Wir haben so zwischen 40 und 50 Bewohner*innen bei uns. Das ersetzt bereits ein ganzes Pflegeheim. Ich hoffe einfach nur, dass wir in Zukunft genug sozial engagierte Menschen haben und die Menschlichkeit siegt. Und das natürlich immer in Verbindung mit einer guten Bezahlung. Derzeit ist es zu wenig. Pflege als Beruf macht sicher keiner nur wegen Geld, aber eine gute Finanzierung braucht es schon.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in unserem aktuellen Verbandsmagazin zum Thema: Pflege. 2021 waren knapp fünf Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Angesichts einer älter werdenden Gesellschaft wird diese Zahl immer weiter zunehmen. Das stellt die gesamte Gesellschaft vor Herausforderungen. Es fehlt an Personal, an Geld und an barrierefreien Wohnungen und auch die Folgen der Corona-Krise sind immer noch spürbar.

Als Paritätischer Gesamtverband vertreten wir zahlreiche Einrichtungen, in denen jeden Tag mit Professionalität, Liebe und Aufopferung Menschen gepflegt werden. Pflege ist mehr als waschen und füttern. Es bedeutet, sich um jemanden zu kümmern, ihm oder ihr Sicherheit zu geben und ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Und manchmal auch einfach menschliche Nähe zu geben.

In diesem Magazin schauen wir auf die Vielfalt der Pflege, denn kein "Pflegefall" ist wie der andere. Dazu schauen wir, welche Alternativen es zur klassischen Heimpflege gibt, wie Senior*innen in Einrichtungen vor Hitze besser geschützt werden können und wie respektvolle Pflege stigmatisierter Menschen funktioniert. Außerdem fragen wir, wie Migrant*innen der Pflegeberuf attraktiv gemacht werden kann und wie die Digitalisierung im Pflegealltag helfen kann. Und wir sagen, warum wir als Paritätischer für die Pflegevollversicherung sind und was das ist.

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Portrait von Philipp Meinert

Philipp Meinert

Philipp Meinert verantwortet beim Paritätischen Gesamtverband den Bereich Presse und Redaktion. Für das Verbandsmagazin des Paritätischen Gesamtverbandes schreibt er Artikel und führt Interviews.

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