Über ein inklusives Theaterprojekt mit Menschen mit Demenz: Wie das Theaterensemble PAPILLONS aus Berlin-Kreuzberg uns lehrt, das Leben, das Alter und den Moment zu würdigen.
Das Wunder muss noch fünf Minuten länger warten. Die letzten Gäste zur ausverkauften Premiere warten draußen vor der Tür auf ihr COVID-19-Testergebnis. Das Publikum sitzt im großen Begegnungsraum in Reihen im Halbkreis und schaut auf den eingedeckten Tisch, der wie das Podium einer Pressekonferenz auf die Stars des Abends wartet. Auf der weißen Tischdecke: Sherrygläser, Keramik-Figuren, Platzkarten. Hinter dem Tisch steht eine junge Frau mit dem Rücken zu uns und drappiert in nahezu meditativer Versunkenheit auf buntem, pastellfarbenen Karton handgeschriebene Gedichte zu einer Wandcollage. Über der Zettelwand rote Pappstreifen mit ausdrucksstarker Handschrift: Wenn Kiefern rauschen, sind sie in ein Gedicht gefallen…
Als auch die Nachzügler*innen Platz gefunden haben, setzt die Musik ein. Auftritt: Die PAPILLONS. Selbstbewusst betreten neun Ensemble-Mitglieder den Raum, lassen sich nicht von dem Begrüßungs-Applaus ablenken, sondern achten auf ihre Schritte, um mögliche Stolperfallen zu umgehen. Vorneweg Elvira mit Rollator, eine elegante Dame, gefolgt von ihren acht Kolleg*innen, einige sind schon um die 90 Jahre alt. Die PAPILLONS nehmen Platz am Podium und den Raum mit ihrer Präsenz sofort ein. Von Lampenfieber keine Spur, das Publikum, darunter viele Angehörige, scheint deutlich aufgeregter zu sein. Erst recht, als die Regisseurin Christine Vogt in den Applaus hinein spricht und darum bittet, auf Fotos zu verzichten: “Seien Sie einfach ganz mit ihren Augen und Ohren da…” Und dann entfaltet sich das Wunder.
Was folgt ist eine Stunde voller Poesie und irgendwie auch ein bisschen Magie. Nach zweieinhalb Jahren Zwangspause durch Corona ist dies die erste öffentliche Veranstaltung, die wieder im Pflegeheim “Am Kreuzberg” des Unionhilfswerks stattfindet. Hinter den Bewohner*innen, ihren Angehörigen, dem Personal liegt eine schwere Zeit. Man spürt die Dankbarkeit, die Erleichterung, die unbändige Freude und man sieht sie auch in den Gesichtern.
Die poetisch-musikalische Lesung ist strukturiert durch Gedichtanfänge, die auf höchst individuelle Art und Weise von den Schauspieler*innen ganz unterschiedlich vervollständigt und interpretiert werden. Von der “Löffel-Liste” (“Bevor ich den Löffel abgebe…”) bis zum “Lieblingswort”, von Momenten, in denen die “Angst kriecht” bis zu denen, in denen die “Liebe wohnt”. Christine Vogt nimmt bereits Gelesenes entgegen, reicht neue Gedichte an, dirigiert mithilfe des Mikrofons, das sie den Sprecher*innen jeweils anreicht, den dynamischen Reigen.
Im Theater arbeitet man üblicherweise mit “cues”, Stichworten, die das Zeichen für den nächsten Einsatz geben. ‘Wenn du dies sagst, tu ich jenes.’ Oder: ‘Wenn der Musiker den letzten Akkord gespielt hat, dann rezitierst du Schillers Glocke’. “Das funktioniert in dieser Gruppe nicht so gut", erklärt Vogt mir später. “Viele haben eine Demenzerkrankung, aber auch für die anderen wäre das Auswendiglernen schwer gewesen, gerade nach der langen Isolation während der Pandemie.” Christine Vogt ist gelernte Schauspielerin und Kunsttherapeutin. Sie engagiert sich seit über 30 Jahren für inklusives Theater und arbeitet seit etwa zehn Jahren künstlerisch auch mit Menschen mit Demenz. Den Anstoß dazu gaben ihre eigenen Eltern, die in einem Pflegeheim verstorben sind und die sie gelehrt haben “das Alter zu würdigen. Mit jedem Geburtstag wurde man schöner, reifer und reifer!”
Die Planung neuer Stücke, die Proben, das alles sei vor allem ganz viel ”Denkarbeit”, sich als Regisseurin immer wieder neue Methoden einfallen zu lassen, um alle Akteur*innen mitzunehmen. Aber als Künstlerin reizen sie einfach auch diese Grenzbereiche, dieses “inbetween” zwischen Vergessen und Erinnern.
Das Theaterensemble PAPILLONS im Pflegeheim “Am Kreuzberg” hat Vogt 2016 gegründet und ist sehr dankbar für die Möglichkeit, dieses Projekt mit großem Rückhalt von Einrichtungsleitung und Kolleg*innen sowie der Unterstützung eines starken Teams und der Stiftung Unionhilfswerk Berlin sowie weiterer Sponsoren nachhaltig gestalten zu können. Erprobt werden gemeinsam mit professionellen Künstler*innen künstlerische Darstellungsformen, die bisher für Menschen mit Demenz nicht realisierbar schienen. Während der Pandemie war das Theaterspielen nicht möglich, doch Vogt ließ sich immer wieder neues einfallen, um die PAPILLONS den widrigen Umständen zum Trotz am Laufen zu halten. Entstanden sind ein Film (INNEN LEBEN) und u.a. eine Podcast-Reihe (STILLLEBEN), die Begegnungen via Zoom zwischen Schüler*innen der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli mit den hochaltrigen Bewohner*innen kunstvoll dokumentieren. Der neueste Coup der umtriebigen Christine Vogt: Die Poesiewerkstatt.
Aus meiner Vogelperspektive sehe ich mich als Vogel im Flug
Die Premiere der Lesung “SCHATTEN SAMMELN” an jenem Freitag startet mit einem Moment des Innehaltens. Maria, passioniertes Gründungsmitglied der PAPILLONS, studierte Kirchenmusikerin, die das Ensemble lange Jahre an Klavier und Orgel begleitet hat, ist im vergangenen Februar noch während der Vorbereitungen zur Lesung in ihrem 97. Lebensjahr verstorben. “Dichten war nicht so ihr Ding”, weiß Christine Vogt zu berichten, doch war sie bis zum Schluss engagiertes Mitglied des Ensembles. Wir hören noch einmal Marias am Ende schon brüchige, doch unverkennbar markante Stimme.
Dann nimmt die Lesung Fahrt auf. Mit jeder Runde, jedem “Kapitel” wie die Regisseurin es nennt, meinen wir, die Protagonist*innen dieses Abends besser kennenzulernen.
Da ist Elvira, von Christine Vogt liebevoll als Madame angesprochen, die vor allem die schöne Bratschenmusik von Mike Flemming zwischendurch sichtbar genießt und unter anderem durch ein besonders kesses Abendgebet auffällt. “Das soll ich wirklich lesen?”, fragt sie, als Christine Vogt ihr das Mikrofon reicht. “Ja, klar, das hast du geschrieben.” Elvira schmunzelt, liest es vor, ohne auch nur rot zu werden und sorgt für fröhliche Heiterkeit im ganzen Raum. Ihre Angehörigen, die neben uns sitzen, jubeln stolz und sind begeistert. Neben Elvira sitzt Bernd, der Sachse, der mit der wiederholten Frage nach einer Zigarette für einen Running-Gag sorgt. Oder Heidi, die waschechte Berlinerin, die das Herz auf der Zunge trägt und deren Gedichte - von Seemännern, Karstadt und Marzipanschweinchen - man sich wunderbar vertont als freche kabarettistische Chansons vorstellen kann. Thorsten ist ein Bär von einem Mann, der im Vortrag schüchterner ist, aber wirkt wie einer, auf den man sich stets verlassen kann. Udo, mit dem weißen Bart, ist etwas feingliedriger, aber ebenso sympathisch und sagt, seine Gedichte seien “Umhüllungen von innerem Leben”. Herbert scheint der jüngste zu sein und dichtet auch schon mal twitter-gerecht (“Flirten impossible”).
…ich hab dir viel Humor gegeben, denn damit kannst du ewig leben!
Während der Lesung, die uns im spannungsreichen Wechsel immer wieder zum Lachen, Staunen und Nachdenken bringt, denke ich unwillkürlich an alte Schulzeiten, wenn in einer Klasse oder später auch in Studenten-WG-Zeiten ganz unterschiedliche Typen und Charaktere zusammen kamen, sich ergänzten und irgendwie zu einer starken Gemeinschaft mit allen Höhen und Tiefen wurden. Die Texte der Hochaltrigen, die ja hier im Pflegeheim auch eine Art Wohn-Gemeinschaft bilden, sind individuell, haben Charakter und scheinen doch zeitlos - Gefühle und Humor kennen kein Alter.
Als Christine Vogt zum Abschluss der Premiere ihren Dank an alle Unterstützer*innen ausspricht und auch auf diejenigen Ensemble-Mitglieder hinweist, die nicht dabei sein konnten, wird einem das Ausmaß des Wunders erst richtig bewusst. Im persönlichen Gespräch hake ich hinterher nach: Man sagt, es brauche ein Dorf, um ein Kind zu erziehen. Christine Vogt erwidert: “Ja, und um einen Demenzkranken zu betreuen, braucht es auf jeden Fall auch ein kleines Dorf oder doch zumindest eine Gruppe.” Die Gedichte der “Poesiewerkstatt” sind alle in eins-zu-eins-Gesprächen und Treffen entstanden. Christine Vogt hat sie ein halbes Jahr lang mit sehr, sehr vielen Bewohnerinnen und Bewohnern gesammelt. Über hundert Texte sind es am Ende, knapp die Hälfte hat es in die Aufführung geschafft.
Ich war verheiratet mit meinen Wörtern
Als “Inspirateurin” und Hilfe bei der finalen Auswahl der Gedichte stand Christine Vogt Aldona zur Seite, ebenfalls Bewohnerin im Pflegeheim “Am Kreuzberg”. Die filigrane Frau mit dem langen grauen Haar, das sie meist offen trägt, fiel Christine Vogt auf, da sie immer Bücher in den Speisesaal mit brachte und gelegentlich auch daraus rezitierte. Eines Tages fragte Aldona, ob sie mal einen ihrer eigenen Gedichtbände mitbringen dürfe. Da stellte sich heraus, dass es sich um Aldona Holmsten handelt, geborene Gustas, litauische Schriftstellerin, Dichterin und Malerin, die einst in den 1970ern mit Günter Grass, Kurt Mühlenhaupt und anderen den Künstlerklub “Die Malerpoeten” gründete. “Sie war eine Pionierin auf ihrem Gebiet, des Zeichnens und der Lyrik, sie hat das zusammengebracht”, schwärmt Vogt. “In unendlichen Gesprächen, Corona ließ das ja zu, haben wir Dialoge geführt, über Kunst, über Poesie, was ist Poesie. Und Aldona inspirierte mich zur Poesiewerkstatt. Ich hatte gemerkt, dass das Dichten, die Poesie es vermag, das Unsagbare oder vielleicht auch das Unsägliche, was uns bis zum Ende unseres Lebens beschäftigt, zum Ausdruck zu bringen.” Alle Gedichte, alle Texte, die die PAPILLONS an jenem Abend vortragen, beziehen sich ein bisschen auch auf Aldonas Texte, die sie selbst in der Poesiewerkstatt verfasst hat.
Vor der Pandemie haben die PAPILLONS jede Woche mindestens einmal geprobt, hinterher gab es immer einen Umtrunk mit Diskussionen und geselligem Zusammensein. Durch die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen war das nicht möglich. Nicht nur Besuche von außen waren eingeschränkt, sondern auch keine Gruppentreffen im Haus möglich, schon gar nicht etagenübergreifend. “Die Coronamaßnahmen waren schwer! Vor allem haben den Akteuren unsere Proben einfach gefehlt, denn das war ja auch immer ein Kontakt mit der Außenwelt. Schauspieler, Techniker, meine Assistentin, die durften auch alle jetzt noch nicht auf die Wohnbereiche, weil man einfach immer noch wirklich Angst haben muss, dass da etwas eingeschleppt wird.” Die Vorweihnachtszeit sei besonders hart gewesen, die Isolation und Einsamkeit habe vielen Bewohner*innen zugesetzt, seelische Bedürfnisse und auch Ängste seien die Folge gewesen. “Es liegt eine schwere Zeit über uns und vielleicht auch noch vor uns.”
Die Premiere dagegen sei ein echter Lichtblick für die Bewohner*innen gewesen. “Das Publikum ist einfach total wichtig. Und das ist im Grunde die Message meiner ganzen Arbeit, dass diese Menschen unbedingt Resonanz brauchen und verdienen.” Während der Lesung konnte man tatsächlich beobachten, wie die Akteur*innen lächelten, man konnte Entspannung sehen und wie sie jeden Zwischenapplaus genossen. “Es war ein Lichtblick, dass noch nicht alles zu Ende ist”, ist sich Vogt sicher. Und es sei wirklich ein kleines Wunder gewesen, dass es funktioniert hat, dass auf den letzten Metern keiner mehr krank geworden sei und keiner die Lust verloren habe.
Wir erzählen bis ans Ende unserer Tage - in rot.
Wir erfahren später, dass die gereimten Texte, die Adelheid, eine Dame im Rollstuhl, perfekt intoniert vorgetragen hat, eine andere Bewohnerin geschrieben hat. Auch Ursula ist kurzfristig eingesprungen. Siegrid und Ella hatten es sich aus gesundheitlichen Gründen nicht zugetraut, an Proben und Aufführung teilzunehmen. Und Michael Hanemann, bekannt aus Film und TV, der uns gleich so bekannt vorkam, ist tatsächlich kein Bewohner sondern professioneller Schauspieler. Tatsächlich hat sich die konkrete Premieren-Konstellation im Grunde erst drei Wochen vorher zum ersten Mal getroffen. Etwa drei Viertel des gesamten Ensembles “PAPILLONS” hat Demenz. Doch ich habe keinerlei Bedürfnis, Christine Vogt zu fragen, wer von den Protagonist*innen des Abends betroffen ist oder nicht. Es spielt überhaupt keine Rolle.
Als wir die Veranstaltungslocation verlassen, die immer noch ein Pflegewohnheim ist, fühle ich mich, als wäre ein Energie-Akku aufgeladen worden, dieser Abend, diese Menschen haben mir auf jeden Fall ganz viel gegeben. Ich frage meinen Begleiter, der ungewohnt still ist, was ihn bewegt. Er antwortet “Stell dir vor, die neun hätten neben uns im Café gesessen. Hätten wir ihnen dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt?” Wir sind uns einig: Der Blick aufs Alter muss sich weiten. Das Leben spielt sich immer jetzt ab. Der Abend hallt noch lange nach. So geht wohl - nicht nur inklusives - Theater im besten Sinne.
Dieser Artikel ist im Verbandsmagazin "Wohlfahrt kreativ" des Paritätischen Gesamtverbandes erschienen.
Bei Wohlfahrt denken viele zuerst an Altenpflege, Kinderbetreuung oder Hilfe für ärmere und kranke Menschen. Das ist alles zweifellos richtig und vor allem wichtig. Doch die Arbeit in der Wohlfahrt ist auch bunt und kreativ.
Dass kreative Angebote und Hilfe leisten sich nicht nur nicht ausschließen, sondern sich sogar gegenseitig bedingen, zeigt die neue Ausgabe unseres Digitalmagazins. Wir sind auf ein riesiges künstlerisches und kreatives Angebot in unseren über 10.800 Mitgliedsorganisationen gestoßen. Viele Paritätische Einrichtungen lockern mit einem Kreativ-Angebot den Alltag der Menschen auf und geben Raum, um sich selbst kreativ und künstlerisch ausprobieren zu können. Hier sind viele spannende und berührende Geschichten zusammengekommen. Eine rundum bunte Ausgabe des Digitalmagazins ist dabei zusammen gekommen.