„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal zu euch kommen muss.“ Das hören die Helferinnen und Helfer in den über 950 Tafeln momentan immer wieder. Viele Menschen sind überfordert mit der Situation und gleichzeitig dankbar für die unbürokratische Hilfe. Die Pandemie zeigt uns täglich, wie wichtig die Unterstützung armer Menschen ist, aber auch, wie schnell und unerwartet Menschen auf Hilfe angewiesen sein können.

Während zu Beginn der Corona-Krise im Frühjahr 2020 über 400 Tafeln vorrübergehend schließen mussten, konnten die Tafeln im zweiten Lockdown bis auf wenige Ausnahmen weiterhin Lebensmittel an ihre Kundinnen und Kunden verteilen. Sie haben ihre Abläufe neu organisiert und ihre Ausgabemodelle an die Abstands- und Hygieneregeln angepasst. Der Aufwand ist dadurch enorm gestiegen.

Helferinnen und Helfer packen Kisten, die sie anschließend schnell und kontaktarm überreichen. In vielen Tafeln findet die Ausgabe draußen statt, Lieferdienste wurden ausgebaut. Eine Tafel baute sogar einen Klappmechanismus in ihre Tür ein: Drinnen stellen die Tafel-Aktiven eine Tüte voller Lebensmittel auf eine kleine Plattform und klappen diese nach draußen, sodass die Übergabe ohne jeglichen Kontakt funktioniert. Tafel-Aktive mussten kreativ werden und schnell handeln, um den Betrieb auch unter den widrigsten Umständen zu sichern. Das geht ins Geld: Medizinische Masken, Trennscheiben oder Benzin für die Fahrten des Lieferdienstes verursachen hohe Zusatzkosten, die die Tafeln belasten. Doch Schutz darf keine Frage des Kontostandes sein, sondern muss für alle Menschen gelten. Tafel-Leitungen sind sich ihrer Verantwortung für die Sicherheit der Helferinnen und Helfer sowie der Kundinnen und Kunden bewusst und achten auf die Einhaltung der Maßnahmen. Auch personell stoßen viele Tafeln an ihre Grenzen, denn zwei Drittel der 60.000 Helferinnen und Helfer gehören zur Risikogruppe. Viele blieben temporär oder dauerhaft zuhause und konnten nur zum Teil durch neue, jüngere Ehrenamtliche vertreten werden. Die Abstandsregeln sorgen ohnehin dafür, dass in den Räumen nur eine begrenzte Anzahl Menschen parallel arbeiten kann. Weniger Mitarbeiterinnen undMitarbeiter müssen daher mehr Arbeit übernehmen. Sie leisten Beeindruckendes.

Pandemie verstärkt Isolation

Die Lebensmittelausgabe ist nur ein Aspekt der Tafel-Arbeit. Als mindestens genauso wichtig empfinden wir die persönlichen Begegnungen zwischen Tafel-Aktiven und -Gästen. Der warme Mittagstisch, die Kulturprojekte für Kinder, die interkulturellen Veranstaltungen und selbst das nette Gespräch an der Theke oder vor der Tür: alles nicht mehr möglich. Die Abstandregelungen sind sinnvoll und nötig. Aber sie nehmen vielen Armutsbetroffenen eine der wenigen Chancen, Kontakte zu pflegen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Armut bedeutet häufig Verzicht und Isolation. Die Pandemie verschärft die Entwicklung. Besonders ältere Tafel-Kundinnen und -Kunden, die Angst vor Ansteckung haben, bleiben häufiger zuhause. Wir erreichen sie nicht mehr, obwohl sie unsere Hilfe weiterhin benötigen würden. Das bereitet uns Sorgen. Wie sich die Lage langfristig entwickelt, ist noch nicht absehbar. Aktuell kommen zu einem Drittel der Tafeln deutlich mehr Kundinnen und Kunden, zu einem weiteren Drittel weniger. Die restlichen Tafeln verzeichnen etwa gleich viele Gäste wie vor der Krise. Dabei dürfen wir auch nicht  vergessen, dass rund 1,6 Millionen Menschen die Hilfe der Tafeln in Anspruch nehmen. Das sind extrem viele, aber gleichzeitig nur ein Bruchteil der über 13 Millionen Armen in Deutschland.

Tafeln entbinden den Staat nicht von seiner Fürsorgepflicht

Tafeln bieten unbürokratische Direkthilfe. Sie sind für die Menschen da, die jetzt Unterstützung benötigen. Damit wir alle sozial gerecht leben können, brauchen wir jedoch nachhaltige Veränderungen. Armut ist ein strukturelles Problem, das u.a. Alleinerziehende, Menschen mit niedriger Qualifikation sowie Eingewanderte und ihre Nachkommen überdurchschnittlich oft betrifft. Ein strukturelles Problem erfordert eine strukturelle Lösung. Deswegen unterstützen wir die Forderungen nach Soforthilfen für arme Menschen und bedarfsgerechten Regelsätzen.


Das Verbandsmagazin "#Mindestens600" des Paritätischen Gesamtverbandes © Der Paritätische

Dieser Artikel ist im Verbandsmagazin "#Mindestens600" des Paritätischen Gesamtverbandes erschienen.

Im Februar starteten wir gemeinsam mit rund 40 Erstunterzeichner*innen den Appell "Corona trifft Arme extra hart - Soforthilfen jetzt!" Im vergangenen Jahr konnten wir und viele andere Organisationen der Wohlfahrt feststellen, wie stark besonders Ärmere unter anderem finanziell von den Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen sind.

Wir fordern daher eine Anhebung der Regelsätze auf mindestens 600 Euro, 100 Euro Coronahilfe, die Ausstattung aller Schüler*innen mit Geräten für den Onlineunterricht und die Aussetzung von Zwangsräumungen während der Pandemie! Bis zum heutigen Tag haben bereits 137.000 Einzelpersonen und weitere Organisationen unterschrieben.

Mit der aktuellen Ausgabe greifen wir die Schwerpunkte von #Mindestens600 noch einmal in Heftlänge auf. Wir zeigen Fakten und Hintergründe zum Appell in Form von Reportagen, Kommentaren und Fachbeiträgen. Dabei kommen sowohl unsere Mitglieder als auch die Unterzeichner*innen aus ganz unterschiedlichen Verbänden und Organisationen zu Wort. Und selbstverständlich gibt es wieder viele Hintergründe aus unserem Verbandsalltag und spannende Termine des Gesamtverbandes und unseren Bildungsträgern!

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Portrait von Jochen Brühl

Jochen Brühl

Jochen Brühl ist Vorsitzender von Tafel Deutschland e.V.

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