Die Hamburger Straßenkids von MOMO wollen sich engagieren und Gangway in Berlin will Marzahn mit den Jugendlichen gemeinsam lebenswerter machen. Beide können dabei nicht auf Politik und Verwaltung bauen.

Für Anfang Oktober ist es ungewöhnlich warm in Berlin-Marzahn. Zwischen den Schluchten der charakteristischen Hochhäuser des Bezirks im Berliner Osten tummeln sich die Bewohner*innen in T-Shirts auf Bänken und Außenanlagen, um in den letzten Sonnenstrahlen zu entspannen. Uwe Heide vom Verein Gangway hat keine Zeit den Spätsommer zu genießen. Der bärtige Mann um die 50 ist mitten in den Vorbereitungen für den Jugendnachmittag am Skatepark Der Rote. Gerade wuchtet der Streetworker noch Material aus einem Auto am Gangway-Büro an der Marzahner Promenade, das er für die Nachmittagsgestaltung braucht.

Heute steht ein sonniger Tag auf dem Roten an. Der Rote ist ein Skatepark in der Wuhletalstraße in Marzahn. Dort organisiert Gangway regelmäßig Jugendnachmittage. Uwe hat inzwischen sein Material in einem Fahrradanhänger mit einer großen Gangway-Fahne verstaut. Nun hat er Zeit zum Erzählen und um Fragen zu beantworten. Der Rote sei der legendärste Skatepark im Bezirk. Er besteht schon seit 2003. „Da haben schon viele Generationen skaten, BMX fahren, scootern oder Inline skaten gelernt“, erklärt Uwe. Seinen Namen bekam der Park von roten Skaterampen und damit ist man auch schon bei einem Problem: Die wurden nämlich aus Altersgründen längst abgerissen und bisher nicht wieder ersetzt. Regelmäßig gestaltet Gangway trotzdem dort Freizeit für Jugendliche. Die Mitarbeiter stellen Scooter zur Verfügung, reparieren Fahrräder und grillen Bratwürste. „Alle freuen sich und nebenbei kommt man natürlich ins Gespräch über Gott und die Welt“, fasst Uwe zusammen.

Uwe Heide

Uwe Heide ist bereits seit 1994 bei Gangway und schon immer im Team Marzahn. Ein direkter und herzlicher Typ, der mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält. In der aufsuchenden Sozialarbeit gehen Streetworker wie er an die Orte an denen sich Jugendliche in Marzahn aufhalten, wie etwa Spielplätze, Einkaufszentren oder Skateparks. Dies sei immer Beziehungsarbeit, so Uwe. Gangway versteht sich als Partner der Jugendlichen.

Kurz bevor wir uns Richtung Skatepark aufmachen, kommt Jerry dazu. Der blonde 13-Jährige trägt Sportklamotten und hat sich früh am Büro von Gangway Marzahn eingefunden. Jerry ist ein ganz normaler Teenager. Kontaktfreudig und mit Spaß an Bewegung und freut sich merklich auf den Nachmittag. Was ihn vielleicht von Gleichaltrigen unterscheidet: Jerry liebt deutschen Schlager und artverwandte Musik. „Ick höre aber auch Rockmusik“, betont er in Berliner Dialekt.

Eine andere Metropole, weiter nördlich. Die Hansestadt Hamburg. Hier ist das Projekt MOMO für ehemalige Straßenkinder aktiv. Die Jugendlichen bei MOMO werden betreut und auch selbst stark in partizipative Projekte eingebunden. 

„Ich weiß nicht, ob du gerade ,Sie’ gesagt hast? Aber ich glaube, keiner von uns möchte gesiezt werden“, tadelt mich Lärry. Die junge Frau ist 27 Jahre alt und seit einem Jahr Bundesfreiwilligendienstlerin bei MOMO. Mit ihr und einigen anderen MOMOs, wie sie sich selbst nicht ohne Stolz nennen, spreche ich im Zoom-Call. Lärrys Schwerpunkt ist der Zusammenhang zwischen Obdachlosigkeit und psychischen Erkrankungen. Aber sie ist auch noch in diverse andere Projekte und Gremien eingebunden. Davor war sie selbst einige Zeit obdachlos. Mit dabei ist auch Yuji. Er ist 20 Jahre alt und macht seit dem Ende seines Bundesfreiwilligendienstes bei MOMO weiter als Ehrenamtlicher. Mit etwa 15 kam er in die Jugendhilfe und ist heute noch im “System”, wie er sagt. Yuji ist ebenfalls an verschiedenen Projekten beteiligt.

Dann gibt es bei den MOMOs noch Jonas, der gerade sein Studium der Sozialen Arbeit abgeschlossen hat und den Freiwilligen als Betreuer zur Verfügung steht. „Das ganze MOMO-Projekt ist ein Projekt für Partizipation und Empowerment“, erklärt er. Dazu gehört auch, dass die Jugendlichen keine Vorgaben bekommen, wie sie arbeiten sollen oder welche Themen sie behandeln möchten. Sie suchen sich ihre Projekte und die Arbeitsbereiche im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes selbst aus. Berater wie Jonas sind lediglich unterstützend tätig. „Aber ohne Berater würde kein MOMO-Büro laufen“, sagt Yuji und liefert eine Definition seiner Arbeit: „Die MOMOs sind komplett selbstständige Jugendliche, die den Lebensmittelpunkt Straße hatten oder noch haben, die trotz ihres schweren Lebens noch Lust haben, sich mit politischem Kram auseinander zu setzen und die Hintergründe verstehen wollen.“ Lärry ergänzt: „MOMO ist ein total partizipatives Projekt. Alle, die mit der Straße zu tun hatten und jetzt hier arbeiten, können selbst ihre Erfahrung hier einbringen, um etwas auf einer politischen Ebene zu verändern.“

Sehr beliebt und oft geklaut: Die Roller auf dem Roten in Marzahn.

Wenn man Uwe in Marzahn auf „Partizipation“ anspricht, verzieht er das Gesicht. Nicht weil er gegen die Beteiligung von Jugendlichen ist, sondern wegen des Begriffs. „Ich habe so ein Problem mit diesen ganzen Fremdwörtern, die richtig groß aufgeblasen werden und hinter denen sich meistens eine Maus versteckt“, gibt er zu bedenken. Er sei Lobbyist der Interessen der Jugendlichen. „Das kann man meinetwegen auch Partizipation nennen. Ich nenne es aber anders“, sagt er in Berliner Schnauze. Denn: Was unter Partizipation läuft, sei für die Jugendlichen letztendlich oft eine Enttäuschung. Die Prozesse gingen viel zu langsam und oft hätten sie selbst gar nichts mehr davon, weil die Projekte erst fertig werden, wenn die Kids schon erwachsen sind und die Angebote nicht mehr für sich benötigen. Das frustriert.

Zwischenzeitlich sind wir auf dem Roten angekommen. Die besten Zeiten der legendären Anlage scheinen wirklich der Vergangenheit anzugehören. Trotzdem sind inzwischen viele Jugendliche gekommen und düsen auf BMX-Rädern oder Scootern umher. Uwe baut den Grill auf, ich unterhalte mich mit Jerry, während im Hintergrund Andrea Jürgens mit „Wir tanzen Lambada“ aus den mitgebrachten Boxen tönt. „Ick mag diese Skaterbahn, weil ich hier Freunde finde“, erzählt der Schlagerfan mir. Seit drei Jahren kommt er hierher, immer mittwochs und freitags. Ein Freund von ihm zeigte ihm den Platz. Es macht ihm richtig Spaß, aber auch er bedauert den Abbau der Rampen. „Sonst finde ich den Platz richtig geil.“ Es sei auch das einzige Angebot für ihn in Marzahn, denn „woanders muss man alles bezahlen.“ Zwischenzeitlich ist auch Torsten dazu gekommen. Der lebhafte Rothaarige ist 15 Jahre alt und möchte erst einmal Roller fahren, bevor er meine Fragen beantwortet. Verständlich, denn dafür ist er auf dem Skatepark. „Eigentlich gefiel mir am meisten die Halfpipe. Aber die gibt’s ja nicht mehr“, meint er dann etwas konsterniert auf die Frage, was er am besten hier finde. Zwischenzeitlich dröhnt der Lichtenberger Rapper Finch Asozial aus den Boxen über den Platz.

Doch warum handeln die Verantwortlichen nicht? Uwes Ton wird etwas rauer, wenn er auf die lokale Politik angesprochen wird. Die Bedeutung, die der Rote für die Jugendlichen in einer angebotsarmen Gegend wie Marzahn hat, sieht er nicht gewürdigt. Dabei sei er wichtig für die Charakterbildung der Jugendlichen. „Ich sehe den Bewegungsdrang. Es ist eine wunderbare Charakterbildung für die Jugendlichen. Sie lernen dort Dinge, die sie nirgendwo lernen. Selbstwirksamkeit, Kameradschaft oder auch mal einen Schmerz aushalten.“ Für Uwe ist nicht nachvollziehbar, dass die Marzahner Politiker*innen das nicht sehen: „Leider haben diese Bezirkspolitiker diese Priorität offenbar nicht.“ Deswegen müsse man sich manchmal laut machen. Eine Industriehalle hätten sie auch schon einmal besetzt, erzählt er. Und am Tag der Deutschen Einheit die Aktion #rettetdenroten gestartet, um in den Sozialen Netzwerken auf den Skatepark aufmerksam zu machen. Natürlich unter der Beteiligung der Jugendlichen.

Ähnliche Erfahrungen mit politischen Zuständen machen auch die Hamburger MOMOs. Sie sprechen regelmäßig Hamburger Senator*innen an und fragen nach, warum es beispielsweise kein ausreichendes Housing First-Projekt in Hamburg gibt  und die Angebote für 14- bis 27-Jährige so gering sind. Oft rennen sie damit vor Mauern. Es sei auch nicht immer leicht, die gestelzten Antworten zu verstehen, meint Yuji. „Manchmal denke ich auch ‚Wat reden die da?‘“ Aber die Arbeit zahlt sich aus. Unter anderem haben die MOMOs eine Ombudsstelle für jugendliche Obdachlose mit aufgebaut, die Menschen auf der Straße zu ihren Rechten berät und sind zum Teil selbst Ombudspersonen.

Was würden die MOMOs in der Politik ändern wollen? „Vieles in der Politik ist zu profitorientiert. Das ist falsch. In der Sozialen Arbeit sollte es um Soziales gehen und nicht nur darum, wie man seinen eigenen Willen durchsetzt“, meint Lärry. Yuju meint: „Man sollte erstmal damit aufhören, Jugendliche in feste Verfahren zu drängen.“  Die Individualität der jungen Menschen müsste anerkannt werden. Schablonen, in die Jugendliche pauschal gepresst werden, verhindern seiner Meinung nach eher die Partizipation. Lärry wird noch konkreter. Sie fordert einen Ort, an dem Jugendlichen zugehört wird. „So lange das nicht gegeben ist, kann man so viel Teilhabe versuchen, wie man möchte – aber es wird nicht stattfinden.“

Der Hamburger Musiker Bernd Begemann sagte einmal über seine Heimatstadt: „In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung.“ Die dortigen MOMOs haben es sicherlich und bleiben dran. Marzahn hat keinen Hafen, aber ebenfalls engagierte Jugendliche und Betreuer, die weiter dafür kämpfen werden, dass „ihr“ Roter eines Tages in altem Glanz erstrahlt. Dafür reichen ein paar Rampen. Ihr Engagement kann man Partizipation nennen, muss man aber nicht. Aber an den jungen Menschen liegt es nicht, wenn sich nichts ändert.

 

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Mehr Beiträge zum Thema Jugendbeteiligung in der aktuellen Ausgabe des Verbandsmagazins mit dem Titel "Jugend partizipiert des Paritätischen Gesamtverbandes!

In dieser Ausgabe wollten wir nicht nur über die Jungen schreiben, sondern sie in erster Linie selbst zu Wort kommen lassen. Deswegen stellen sich zahlreiche Engagierte aus unseren Mitgliedsorganisationen vor, geben Interviews und berichten von ihrem Alltag. Wir fragten nach ihren Gründen für ihr Engagement und bekamen spannende Antworten. Dazu waren wir in einem queeren Jugendzentrum in Köln, in einem Skatepark in Berlin-Marzahn und haben uns in Moabit umgesehen, was Jugendlichen dort geboten wird. In unseren Interviews geht es um Diskriminierungen, aber auch Empowerment und Engagementmöglichkeiten. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei, wie bei unserem Aktionsmonat auf den digitalen Medien wie TikTok und wie junge Menschen sich konstruktiv im Netz bewegen können und welche Gefahren lauern.

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Portrait von Philipp Meinert

Philipp Meinert

Philipp Meinert verantwortet beim Paritätischen Gesamtverband den Bereich Presse und Redaktion. Für das Verbandsmagazin des Paritätischen Gesamtverbandes schreibt er Artikel und führt Interviews.

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