Die Flutkatastrophe in der Nacht vom 14. Juli in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz machte zwei Sachen klar, wenn es um die Hilfsmechanismen im Land geht. Zum einem gibt es ein großes freiwilliges Engagement in der Gesellschaft sowie ein gutes Netz an Hilfsorganisationen. Zum anderen wurde aber auch offenbart, was beim Katastrophenfall verbessert werden kann.

Ganze Fassadenteile müssen bei den alten Fachwerkhäusern in der Gemeinde Iversheim, Bad Münstereifel, ersetzt werden.

Nichts ist mehr wie es vorher war in Bad Münstereifel im Kreis Euskirchen seit der Flutkatastrophe. Der Stadtteil Iversheim hat viele kleine Fachwerkhäuser, ganze Fassadenteile stehen auch im September noch offen. Auch zehn Wochen nach der verheerenden Flut, hier an der Erft, sind hier noch Absperrungen aufgestellt, Geröll liegt vor den Häusern, auch einige Container sind noch da. Viele der großen Trümmer sind bereits weg, geblieben sind die schlimmen Bilder im Kopf.

Mariya Schmitz sitzt an einem Tisch auf einem kleinen Platz vor dem Iversheimer Dorfsaal beim „Mobilen Büro nach Hochwasser“ des Paritätischen Wohlfahrtsverband im Kreis Euskirchen. Mit einem Wohnmobil fahren die Vertreter*innen vom Paritätischen in die Orte, um direkt schnelle Hilfe anzubieten: Sei es bei Anträgen zur Wiederaufbauhilfe NRW, psychologischer Beratung oder Weitervermittlung. Mariya schießen die Erinnerungen hoch. „Was wäre gewesen, wenn?“, fragt sich sie immer wieder und denkt an die Nacht, als das Wasser kam. Nur ausnahmsweise hat sie an diesem Abend rechtzeitig Feierabend gemacht. Später, zur normalen Zeit, wäre auf ihrem Heimatweg nur noch Wasser gewesen.

Mariyas Mann ist übergewichtig und pflegebedürftig. Er lag auf dem Sofa im Erdgeschoss als Mariya neben ihm stehend von innen das dreckige Wasser am Fenster hochsteigen sah. Ihr erster Impuls war es, hinten am Hang rauszugehen, gegenüber sei die erste Etage im Haus weggewesen, sie wollte helfen, vom Hang kam ein Feuerwehrmann und schrie: „Bist du bescheuert, geh zurück, das Wasser reißt.“

„Jeder Schritt hält uns am Leben“

Drinnen schaffte es die kleine Frau ihren schweren Mann die Treppe heraufzuziehen. „Jeder Schritt hält uns am Leben“, dachte sie und sie werde jeden mit ihm gehen. Heute weiß sie nicht mehr, wie sie solche Kräfte entwickeln konnte. Oben harrten die beiden der Probleme aus. „Richtige Einsatzkräfte“ seien erst ein bis zwei Tage später gekommen. Eine Sirene zur Warnung hat es in Eicherscheid (Simmerath) nicht gegeben. Nach Ende des Kalten Krieges sind die Sirenen bundesweit vielerorts demontiert worden, so auch in den neun Kommunen des ehemaligen Kreises Aachen. Zurzeit befindet sich das Warnsystem wieder im Aufbau.

Im Katastrophenfall ist der oberste Diensthabende verantwortlich, in den Landkreisen sind das die Landräte. Unterschiedlich schnell und gut haben sie anscheinend auf den Starkregen und die Flutwelle reagiert. Im Kreis Euskirchen gab es vereinzelt Sirenen gegen 22.30 Uhr, um den Katastrophenfall zu verdeutlichen. Aber auch vorab hat es im Kreis Euskirchen nach Aussagen der Kreisspitze viele Warnungen gegeben, durch Warnapps, Facebook, Radio Euskirchen und den Online-Auftritt der Tageszeitungen wäre informiert worden, wird später Landrat Markus Ramers sagen – den genauen örtlichen Niedergang sowie das Ausmaß habe man nicht abschätzen können.

„Wer es rausschafft, schafft es raus.“

Dirk Lötschert war in der Nacht als Abteilungsleiter Rettungswesen und Bevölkerungsschutz beim Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) im Kreis Euskirchen „von der ersten Sekunde im Katastrophenfall“ vor Ort. Ihre Aufgabe war es, zuerst die Menschen zu sichern. Der Notfallsanitäter erzählt von den überfluteten Feldern, als sie um 23.50 Uhr im Katastrophengebiet ankamen. „Wir mussten uns erst den Weg bahnen“, erinnert er sich. Dann seien immer mehr Straßen vollgelaufen und wurden unpassierbar. „Unrealistisch, da Einsatzfahrzeuge reinzuschicken“, sagt Lötschert. Teilweise sei die Flutwelle bis zu acht Meter hoch gewesen. „Die Wucht, die sie da trifft mit den ganzen Sachen drin, die werden sie nicht überleben“, weiß der Einsatzleiter. Da hieß es: „Wer es rausschafft, schafft es raus.“ Evakuierung ging von da an nur mit Booten, die nicht ausreichend vorhanden gewesen seien. Hat man insgesamt zu spät damit begonnen, die Menschen zu evakuieren? „Ob die Entscheidung dazu früher hätte getroffen werden können, ist fraglich“, sagt dazu Dirk Lötschert.

Lötschert benennt mehrere Probleme, so sei „der Katastrophenschutz über Jahrzehnte runterreduziert worden.“ Es fehle an Fahrzeugen und Ausstattung, Abläufe müssten automatisiert und systematisiert werden. Auch bei dem Ausmaß am Ehrenamt käme man an einen Punkt, wo es schwierig würde. Einige Helfer wären, verständlicherweise, da sie selbst betroffen waren, kaum einsatzfähig gewesen. Hier müsse von Verantwortlichen rechtzeitig Hilfe von Hilfsorganisationen und Rettungsdiensten aus anderen Bundesländern eingeholt werden.

Kein Navi, kein Atlas, keine Kommunikation: Der Einsatz lief blind

Im Kreis Euskirchen fiel um ein Uhr morgens am 15. Juli die Kommunikation aus. „Wir konnten so den Einsatz, wie wir ihn kennen, nicht ausführen“, erinnert sich Lötschert. Auch zur Leitstelle gab es keinen Kontakt mehr. Die Navigationsgeräte liefen ebenfalls nicht mehr, sodass jede Einheit vor Ort auf sich gestellt war. Dazu kommt: Im Zuge der Umstellung auf Navigationsgeräte waren die Atlanten aus den Einsatzwagen entfernt worden, der Einsatz lief blind. „Dieser Morgen war so unwirklich, wie er nur sein kann“, erinnert sich der Notfallsanitäter. Fünf Tage waren sie so im Dauereinsatz.

In Kuchenheim auf einer Anhöhe richteten die Einsatzkräfte eine Betreuungsstelle ein. Was herausstach: Das Ehrenamtliche Engagement, ob von Freiwilligen, ungebundenen Helfern oder einzelnen Spendern mit Essen oder Getränken sei groß gewesen. „Ohne Ehrenamt könnten wir das jetzt selbst noch nicht steuern“, sagt Lötschert.

Mariya erinnert sich an den Morgen, als das Wasser wegging. Um 6 Uhr ging sie auf die Straße, um nach ihren Nachbarn zu schauen. „Wir haben erstmal überlegt, woher wir jetzt einen Kaffee bekommen“, da der Strom ausgefallen war. Sie schaute in ihren Garten und sagte: „Der Grill funktioniert noch“, also „grillte“ sie für alle erstmal Kaffee. Ein Moment der Gemeinschaft, der exemplarisch für so viele steht.

Die systemische Therapeutin Nicole Giefer vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Kreisgruppe Euskirchen sitzt bei Mariya, sie weiß: Die Gemeinschaft hat vieles getan. Ob Freiwillige Feuerwehr, ehrenamtliche Hilfskräfte oder Einzelne, „jeder packte mit an“. Materiallager wurden organsiert, um Spenden zu lagern. Die Hilfe überdauere bis jetzt. Aber was ist, wenn die Menschen wieder allein auf sich gestellt sind, in ihre Häuser zurückkehren? Dafür will sich Giefer einsetzen, dass sie in Netzwerken, Selbsthilfegruppen oder Psychologischer Betreuung gut aufgehoben sind. Und vielleicht kann Mariya dann auch so wieder ein fröhlicher Mensch werden, was sie sich so sehr wünscht.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Verbandsmagazin "Der Paritätische"

In der aktuellen Ausgabe 05/21 lag der Schwerpunkt auf den Themen Katastrophenschutz und Rettungswesen.

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Autor*in

Annabell Fugmann

Annabell Fugmann ist selbstständige Journalistin.

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