Nach klassischen Berechnungen sind über 620.000 Berlinerinnen und Berliner arm. Einer neuen Studie des Paritätischen zufolge erhöht sich diese Anzahl noch einmal drastisch, wenn man die Wohnkosten mit einberechnet. Dann sind fast 920.000 Bewohner*innen und damit jede und jeder Vierte in der Hauptstadt wohnarmutsbetroffen. Dieser Zustand ist nicht nur für die Betroffenen dramatisch, sondern auch eine große Herausforderung für die Soziale Arbeit. Wir haben uns in zwei Paritätischen Einrichtungen umgehört, wie die Wohnarmut sich bei ihnen zeigt.
Wenn es um den Wohnungsmarkt geht, wird Georgi Petrov deutlich. „Wirklich brutal“ sei es in Berlin. „Ich bin seit 2011 hier, habe seit 2016 einen Job und seitdem immer im Wohnheim gewohnt“, erzählt der junge Mann mit dem freundlichen, runden Gesicht. Herr Petrov ist ein Klient bei Respekt & Halt in Berlin-Marzahn. Der 31-Jährige kommt aus Bulgarien und heißt eigentlich anders. Sein Name wurde in diesem Artikel geändert. Nach einem Konflikt mit seinem Vater hat er seine Heimat verlassen und versucht seither, sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Seitdem lebte er in mehreren ASOG-Wohnheimen, also Wohnheimen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz. Eine eigene Wohnung in Berlin hatte Petrov trotz Arbeit und viel Bemühen noch nie.
Seine Wohnsituation im Mehrbettzimmer mit Fremden belastet den jungen Mann. Es macht ihn wütend, dass er nach all den Jahren immer noch keine eigene Wohnung finden konnte. Dies beschränke auch seine private Zukunftsplanung enorm: „Ich kann doch keine Familie gründen. Soll ich mit Frau und Baby im Wohnheim wohnen?“ Viele Beziehungen, sagt er, seien schon an seiner Wohnsituation gescheitert.
Jan Schwab ist einer von zwei Sozialberatern in der Sozialberatungsstelle Respekt & Halt mitten in Marzahn. Im einstigen DDR-Vorzeigebezirk stehen die Plattenbauten, die errichtet wurden, um die Wohnungsnot Ostberlins zu bekämpfen. Die Armutsquote liegt laut Berliner Sozialbericht bei 20 Prozent. Schwab arbeitet seit sieben Jahren in Marzahn. Inzwischen sei er gut „eingegroovt“, wie er sagt. „Mich hat schockiert, wie groß die Wohnungskrise in Berlin inzwischen ist“, schildert der gebürtige Hesse einen seiner ersten Eindrücke. Auch schockiert hätte ihn, wie viele verschiedene Menschen mit gravierenden Hilfebedarfen in den Wohnheimen wohnen müssen – da sind Menschen mit Suchterkrankung und psychischer Erkrankung, aber auch Familien und Alleinerziehende mit Kindern, die teilweise jahrelang auf sich gestellt sind.
Die Wohnungskrise ist längst aus dem S-Bahn-Ring in die Berliner Randbezirke geschwappt. Selbst in der einst eher unbeliebten Platte wird der Wohnraum knapp. Für die Menschen, die Schwab betreut, wird es noch knapper: „Viele kommen mit vielen Hürden zum Wohnungsmarkt.“ Seine Klient*innen haben Mietschulden, konnten sich aufgrund einer psychischen Krise nicht um ihre Angelegenheiten kümmern oder haben aus anderen Gründen keine Chance, auf dem privaten Wohnungsmarkt etwas zu bekommen. „Bei den städtischen Wohnungsbaugesellschaften kommt man manchmal noch rein, aber auch da wird es immer enger.“ Und wer einmal aus dem Wohnungsmarkt raus ist, kommt mit dem Stempel „Wohnungslos“ kaum wieder hinein. „Die konkrete Erfahrung ist: Der Markt ist für unsere Klient*innen eigentlich geschlossen“, so Schwab.
Im Westbezirk Neukölln, wenige Kilometer entfernt, ist das nachvollziehbar. Es gibt hier einige Gemeinsamkeiten, aber auch zahlreiche Unterschiede zu Marzahn-Hellersdorf. In Neukölln liegt die Armutsquote bei fast 30 Prozent und damit noch höher. Gleichzeitig stiegen allein zwischen 2022 und 2024 die Mieten hier um über 23 Prozent – so stark wie in keinem anderen Berliner Bezirk. Diese schon länger anhaltende Entwicklung beobachtet man im Nachbarschaftsheim Neukölln mit Sorge. Hier am Körnerpark in zunehmend gentrifizierter Lage beraten Andrea Landmann und Agnes Simon auch Menschen, die an ihrer Wohnsituation zunehmend verzweifeln.
Gerade der nördliche Teil des Bezirks innerhalb des S-Bahnrings hat binnen weniger Jahre einen rasanten Wandel hingelegt vom abgehängten zum angesagten Bezirk. Gleichzeitig gilt in Neukölln immer noch jede*r dritte Bewohner*in als arm. Manche kommen bei der Mietenentwicklung nicht mit. Viele der Klient*innen, die ins Nachbarschaftsheim kommen, leben in „Schrottimmobilien“, also runtergekommenen Häusern, in denen dennoch horrende Mieten verlangt und damit Mieter*innen skrupellos ausgebeutet werden. Gerade Familien sind gezwungen, viel zu kleine Wohnungen zu beziehen. „Und dann bekommen sie nach einem Jahr eine Kündigung wegen Überbelegung. Aus dem prekären Wohnen kommen die Leute auch gar nicht mehr raus“, erklärt Andrea Landmann.
Respekt & Halt in Marzahn hilft den Klient*innen dabei, Bewerbungsmappen für ihre Wohnungsanfragen zu erstellen und zeigt ihnen, wie sie online nach Wohnungen suchen können. Die Erfolgsquote sei dabei verschwindend gering, sagt Jan Schwab: „Für uns als Sozialarbeiter ist das eine große Herausforderung, weil wir trotz der Motivation und der Struktur, die wir den Klient*innen geben wollen, selten Erfolge sehen.“
In Neukölln ist das ähnlich. Agnes Simon erzählt, dass inzwischen oft verzweifelte Rundmails von Familien kommen, die alle sozialen Einrichtungen des Bezirks anschreiben mit der Bitte, ihnen bei der Wohnungssuche zu helfen. Und selbst wenn eine Wohnung gefunden wurde, ist es eine große Herausforderung, diese auch zu halten. „Das Thema Wohnungskündigung nimmt bei uns stark zu“, sagt Frau Landmann. Wöchentlich gäbe es inzwischen drei bis vier Anfragen von Mieter*innen, denen die Wohnung gekündigt wurde, an die Berater*innen des Nachbarschaftsheimes. Landmann: „Wir schauen dann immer, ob von unserer Seite aus noch was möglich ist.“ Hinter den Kündigungen steckten oft wirtschaftliche Interessen der Vermieter, die im aufstrebenden Bezirk Gewinn riechen. Leider wird ihnen im Fall von Bürgergeldbeziehenden seitens der Ämter in vielen Fällen zur Hand gegangen: die Mieten, die zu hoch sind für die unrealistisch niedrig angesetzte Miethöhen in den in Berlin geltenden „Ausführungsvorschriften (AV) Wohnen“, müssen aus den Regelleistungen gezahlt werden. Das ist angesichts der Höhe der Regelleistungen meist unrealistisch. Damit werden Leistungsbeziehende entweder in Schwarzarbeit oder in die Schulden getrieben – denn die Aussicht auf einen neuen bezahlbaren Wohnraum ist seit Jahren verschwindend gering.
Andrea Landmann erzählt von einer fünfköpfigen Familie mit einem Baby, die im Nachbarschaftsheim betreut wird. Ihnen wurde mehrfach unzulässigerweise die Wohnung gekündigt, was meist abgewendet werden konnte. Mit der letzten Kündigung war der Vermieter jedoch erfolgreich und die Familie wurde zwangsgeräumt. „Jetzt sind sie ebenfalls wieder in einer prekären Wohnsituation und leben zu fünft in einer 2-Zimmer-Wohnung für 1500 Euro Kaltmiete plus überteuerte Kaution, damit sie die Wohnung überhaupt beziehen können.“ Hinzu kam der Zustand der neuen Bleibe, die die Familie auch noch selbst renovieren musste. Dabei verletzte sich eine Person schwer, als ihr eine Heizung auf den Fuß fiel. Bereits jetzt ist klar, dass die Familie auch hier nicht längerfristig bleiben kann. Das Haus gehört einem Investor, der plant, das Haus zu sanieren und als Eigentumswohnungen zu verkaufen.
„Wir merken den Wandel an den Kündigungen, bei denen klar ist: Da will jemand sanieren und neu vermieten oder verkaufen“, erklärt Agnes Simon. Allein die Möglichkeit der Wohnungskündigung – ob gerechtfertigt oder nicht – schüchtert bereits stark ein, so Simon weiter: „Viele unserer Klient*innen wollen gegen Mängel gar nicht vorgehen aus Angst, aus ihrer Wohnung zu fliegen.“ Die Angst behält die Mieter*innen in ihrer untragbaren Lage.
„Früher hatten wir zumindest gefühlt noch ein paar Stellschrauben“, erzählt Andrea Landmann. „Wir haben mit den Klient*innen einen Wohnberechtigungsschein beantragt und konnten deren Chancen, doch noch eine Wohnung zu finden, etwas erhöhen. Wir haben dann gesagt: Bleib ein bisschen dran, melde dich öfter bei der Wohnungsbaugesellschaft und lass dich auf deren Listen setzen.“ Das sei schon länger vorbei. „Inzwischen ist es gar kein Vorteil mehr, einen Wohnberechtigungsschein zu haben, denn sehr viele beantragen ihn.“
Immer öfter stellt sich die Frage, ob es denn unbedingt Berlin sein muss. „In Eisenhüttenstadt gibt es ein Probewohnprojekt, das auch mit Ausbildungs- und Berufsmöglichkeit verbunden ist“, so Schwab. „Ich muss die Leute immer öfter fragen, ob auch eine Wohnung außerhalb Berlins eine Option ist.“ Das klinge vielleicht hart, aber gerade für Menschen, die seit Jahren in einem Heim wohnen, eine neue Chance. Aber die Lösung für alle ist das natürlich nicht.
Wenn man die Sozialarbeiter*innen fragt, was sich ändern müsste, fällt ihnen ein ganzes Maßnahmenbündel ein. Der Sozialwohnraumbestand muss hoch, so Jan Schwab: „Wir können als Sozialarbeiter nicht gegen die gläserne Decke anarbeiten, die die Politik über uns aufspannt. Und wenn es keine Sozialwohnungen gibt, können wir unsere Klient*innen da nicht reinbringen.“ Und natürlich müsse auch auf die ökonomische Situation der Menschen geschaut werden, erklärt er weiter. Das eine sei nicht ohne das andere zu denken: „Wer die Wohnraumfrage beantworten will, muss Zugang zu bezahlbarem Wohnraum schaffen. Und auch die Frage nach Einkommen.“
Andrea Landmann sieht auch großen Änderungsbedarf auf der Seite der Behörden: „Bei der Übernahme von Kosten der Unterkunft wird sich an der sogenannten AV Wohnen orientiert, die einschätzt, was angemessen ist. Und die ist einfach unrealistisch.“ Agnes Simon ergänzt: „Die Klient*innen damit unter Druck zu setzen, dass sie nicht in die Tabelle der AV Wohnen passen, ist der völlig falsche Weg. Eigentlich müsste man es genau umgekehrt machen und den Vermieter*innen vorschreiben, welche Miete sie verlangen dürfen.“
Darüber hinaus müssten Neuvermietungen dahingehend reguliert werden, dass Ausbeutung der Mieter*innen unterbunden wird. Ein Punkt ist ihr besonders wichtig: Das Engagement gegen Schrottimmobilien und Vermieter, deren zweifelhaftes Vorgehen und Ausnutzen von Notsituationen bekannt ist. „Leider sind auch wir oft gezwungen, mit diesen Leuten zusammen zu arbeiten, damit unsere Klient*innen nicht auf der Straße landen. Da sind wir auch in einem Dilemma“, meint Frau Simon. Ihre oft migrantischen Klient*innen seien von Rassismus betroffen und damit bei der Wohnungssuche stark eingeschränkt: „Hat jemand einen andersklingenden Familiennamen, wird er oder sie seltener berücksichtigt.“ Kommen noch Sprachbarrieren oder Transferbezug hinzu, geht die Chance auf eine Wohnung gegen Null. „Meistens klappt es da wirklich nur durch private Verbindungen oder undurchsichtige Machenschaften“, so Agnes Simon.
Das trifft auch auf Georgi Petrov zu. Ob er denn überhaupt noch Hoffnung habe, eine Wohnung zu finden, frage ich ihn. „Nee“, sagt der Bulgare nach kurzem Überlegen knapp. Er verdiene zu wenig, könne sich die Mieten auf dem privaten Wohnungsmarkt nicht leisten. Unter der Hand komme man schon an Wohnungen, so Georgi Petrov, aber dafür müsse man 5000 Euro an die „Mafiosi“, wie er die Wohnungsvermittler des Schwarzmarktes nennt, bezahlen.
Im nächsten Jahr sind Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin. Schon jetzt ist klar, dass Wohnen in der Hauptstadt eins der wichtigsten Wahlkampfthemen werden wird. Mal wieder.