Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Gesundheitsökonom und Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes, im Gespräch über Gemeinwohl und Kommerzialisierung in Kunst, Kultur und Gesundheit.

Herr Prof. Dr. Rosenbrock, Herr Zimmermann, wo liegen Ihrer Meinung nach Überschneidungen Ihrer Themen Gesund­heitspolitik beziehungsweise Kultur in Bezug auf Gemeinwohl­wirtschaft?

Zimmermann: Die beiden Bereiche haben mehr Gemeinsamkei­ten, als es auf dem ersten Blick scheint. Wir haben beide letzt­endlich in diesen letzten Jahrzehnten eine strukturelle Verände­rung erlebt. Ich glaube, dass sie unterschiedlich stark ausgefallen ist in dem Gesundheitsbereich und in dem Kulturbereich, aber dass sie in ihren Grundstrukturen sehr ähnlich ist. Alles ist mehr auf Effektivität getrimmt worden. Es ist mehr Management ein­gezogen. Das ist im Gesundheitsbereich genauso wie im Kultur­bereich gewesen. Und beide Bereiche sind kommerzialisiert worden. Aber es gibt schon noch einen Unterschied zwischen dem Kulturbereich und dem Gesundheitsbereich, aber da kann mich dann bitte auch der Herr Rosenbrock gern korrigieren. Der Kulturbereich ist widerständiger gewesen, was Veränderungen angeht. Viele unserer Strukturen sind deshalb immer noch ge­meinwohlorientiert und gemeinnützig. Nicht in allen unseren Einrichtungen hat sich die Kommerzialisierung durchsetzen kön­nen. Ich habe das Gefühl, dass die Kommerzialisierung im Ge­sundheitswesen erfolgreicher gewesen ist als im Kulturbereich, aber die Wege sind wir, gemeinsam, parallel gegangen.

Rosenbrock: Ja, ich glaube dem kann ich mich weitgehend an­schließen. Ich glaube auch, dass der Kulturbereich eine höhere Resilienz, eine Widerstandsfähigkeit und –fertigkeit und vielleicht auch Kompetenz hatte, sich gegen verhängnisvolle Entwicklungen zur Wehr zu setzen. In Bezug auf das Gesundheitswesen und das Krankenversorgungssystem kann man sagen, dass die neoli­berale Idee, dass der Markt das beste Verteilungsinstrument ist, was es gibt und dass der Weg, um den Markt in Bewegung zu setzen, der Wettbewerb zwischen den Akteuren ist, dort auf viel zu viele offene Ohren gestoßen ist. Die Idee, dass der Wett­bewerb das Instrument ist, das zur besten Allokation von Res­sourcen führt, ist nicht aufgegangen. Wir sehen es bei den Kran­kenkassen, die eben dann nicht mehr nur gemeinwohlorientiert agieren, sondern im Grunde genommen untereinander um die Versicherten mit den positiven Deckungsbeiträgen konkurrieren, d.h. also Multimorbide, Arme, Alte und Kranke nicht so gerne sehen. Das sind Konfliktpunkte, wo die Wettbewerbswirkung sich ganz klar mit dem gemeinwohlorientierten Anspruch sowohl der Krankenversicherung als auch der Krankenversorgungsinsti­tutionen konfrontativ stößt. Und da hat das Gesundheitswesen nicht viel Widerstandskräfte entwickelt. Es geht so weit, dass Allgemeinärzte und Fachärzte um Patienten konkurrieren und dass die Krankenhäuser ihr Zuweisungsmanagement, wie das so schön heißt, letztlich auch nach eigenen Ertragsgesichtspunkten organisieren. Das sind alles Entwicklungen, die vom eigentlichen Auftrag des Krankenversorgungssystems, jedem Menschen in Deutschland unabhängig von seinem sozialen Status, unabhängig von seinem Einkommen und Vermögen den gleichberechtigten Zugang zu einer hochwertigen und vollständigen Krankenversor­gung zu gewährleisten, immer weiter abgekommen ist.

Herr Zimmermann, Kultur hat eine Sonderstellung im Kapi­talismus, also etwas, das wir uns für viele andere Bereiche auch wünschen. Woraus leitet diese sich ab?

Zimmermann: Die Sonderstellung können Sie im Artikel 5 Ab­satz 3 des Grundgesetzes nachlesen. Da steht drin, dass die Kunst frei ist und dass der Staat genau diese Freiheit zu gewährleisten hat. Es ist die Frage, was heißt es, wenn man diese Sonderstellung hat? Die Kultureinrichtungen müssen immer vor dem Hinter­grund gesehen werden, dass die Kunstfreiheit ein zentrales Staatsziel der Bundesrepublik ist. Und das bedeutet, dass der Staat mit dem Kulturbereich nicht machen kann, was er vielleicht gerne möchte. Da muss er sich schon auch an das Grundgesetz halten und er darf eben nichts machen, was diese Kunstfreiheit beeinträchtigt. Natürlich ist es im Konkreten nachher viel kom­plizierter, weil natürlich auch nicht immer gleich klar ist, was gehört denn nun in den Bereich der Kunstfreiheit hinein? Wie weit geht das? Zum Beispiel, dass es Grenzen der Einflussnahme, auch der staatlichen Einflussnahme gibt – selbst, wenn die Insti­tutionen überwiegend mit öffentlichen Mitteln finanziert werden.

Trotzdem muss ich auch klar sagen: das schützt uns nicht auto­matisch vor der Devise Markt vor Gemeinwohl, die natürlich auch über uns gekommen ist. Und das mussten wir in den letzten Jahren bitter lernen, weil wir am Anfang wirklich nicht wussten, wie stark wir zum Beispiel durch internationale Handelsabkom­men berührt sind. Da haben wir wirklich lernen müssen, weil wir uns am Anfang gar nicht vorstellen konnten, dass die sogenannten Freihandelsabkommen irgendetwas mit uns zu tun haben könn­ten. Als über TTIP oder CETA, die Freihandelsabkommen mit den USA und mit Kanada, verhandelt wurde, haben wir lernen müssen, dass die Gemeinwohlorientierung des Kulturbereiches in Frage gestellt wurde. Deswegen fand ich es eine gute Erfah­rung, dass wir mit Herrn Rosenbrock und dem Paritätischen und vielen anderen gemeinsam gegen diese Freihandelsabkommen auf die Straße gegangen sind und für die Besonderheit unserer Bereiche eingetreten sind. Wir haben der Regierung gegenüber gemeinsam klar gesagt, dass es Grenzen gibt und wir eine radi­kale Marktöffnung in unseren Bereichen ablehnen.

Herr Rosenbrock, während Kulturschaffende überwiegend unter den Beschäftigungsverhältnissen gerade um ihre Exis­tenz bangen, arbeiten die Beschäftigen der Gesundheitsbran­che während der Pandemie am Limit. Um welcher der beiden Berufsgruppen würden Sie sich aus einer rein gesundheitsöko­nomischen Perspektive mehr Sorgen machen gerade?

Rosenbrock: Oh, das ist schwer zu sagen, weil die Belastung auf völlig unterschiedlichen Ebenen liegt. Die Kulturschaffenden sind praktisch von einem auf den anderen Tag von ihren Arbeitsmög­lichkeiten weitgehend abgehängt worden und haben jetzt einfach das Problem, irgendwie zu überleben und dafür zu sorgen, dass der Betrieb irgendwie wieder anfängt zu laufen. Während die Beschäftigten in Altenheimen, der ambulanten Pflege und in der Krankenversorgung generell, wie Sie sagen, am Limit arbeiten. Wir haben eben im Pflegebereich ohnehin schon immer eine sehr prekäre, kaputtgesparte Arbeitssituation, wenn wir sehen, dass insgesamt ein unglaublicher Personalmangel in der Pflege herrscht. Wir brauchen bis 2030 mindestens 100.000 mehr Pflegekräfte, Fachkräfte und Hilfskräfte, um den Betrieb überhaupt aufrecht zu erhalten. Und da ist heute schon extremer Personalmangel und dann kommen die ganzen Hygienevorschriften und Test­pflichten in den Einrichtungen noch hinzu, ohne hinreichende Hilfe von außen. Zudem sind auch die Programme der betriebli­chen Gesundheitsförderung, wo es um Kompensation der großen biopsychosozialen Belastungen geht, in 2020 einfach eingestellt worden, weil es wegen Corona angeblich nicht ging, aber die Arbeit ging ja weiter. Zum Beispiel ist im Bundesdurchschnitt jeder Beschäftigte ungefähr 19 Tage krank, bei den Pflegekräften sind es 25, und dass obwohl Pflegekräfte zu über 40 Prozent auch dann noch mehr als 10 Tage pro Jahr zur Arbeit gehen, wenn sie sich subjektiv krank fühlen. Das ist weit oberhalb des­sen, was sich andere Beschäftigte zumuten. Das liegt an der hohen intrinsischen Motivation der Pflegekräfte, die ja wirklich das auch immer sagen: „Wir erleben Sinn.“ Und das ist eine ganz wichtige gesundheitliche Ressource in dieser Tätigkeit, andere Menschen zu pflegen und anderen Menschen zu helfen. Aber dabei kommt ihnen wiederum keiner zur Hilfe.

Wir haben ja jetzt das Fiasko um die Einführung eines Tarifver­trages für die Pflege erlebt. Denn auch die Bezahlung ist natürlich, wenn sie zu niedrig ist, eine psychische Belastung. Wenn Men­schen in der Altenpflege nach wie vor im Durchschnitt 500 € weniger verdienen als Pflegekräfte im Krankenhaus, schlägt das auf die Seele und das kann dann bis hin zu Stoffwechselstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und nicht nur zu psychischen Er­krankungen führen.

Die Kulturschaffenden sind sozusagen am Limit, weil sie nicht machen, wofür sie ausgebildet sind, worin sie ihren Sinn erleben und die Beschäftigten im Gesundheitswesen sind hoch belastet, weil es für sie keinen Lockdown gab und sie unter Bedingungen arbeiten, die für sich genommen schon mehr als hoch belastend sind.

Zimmermann: Also das kann ich auch nochmal bestätigen. Ich glaube viel zu viel zu arbeiten, wie gerade im Gesundheitsbereich, macht krank. Nicht arbeiten zu dürfen macht aber auch krank. Viele im Kulturbereich können jetzt mehr als 13 Monate ihrem Beruf nicht nachgehen. Am Anfang waren die Diskussionen im Kulturbereich von der Frage geprägt, wie man das ökonomisch überstehen kann. Nach mehr als einem Jahr geht es um weit mehr als nur das ökonomische Überleben. Es geht um die eigene künstlerische Existenz. Die meisten in unserem Bereich haben ihren Beruf ja nicht ergriffen, weil sie geglaubt haben, dass sie damit sehr reich würden, sondern weil sie obsessiv Kunst machen müssen. Und das können sie jetzt nicht mehr und das so lange nicht mehr. Das staut sich auf und das führt zu wirklich extremen Belastungen und deswegen sagen wir ja auch: „Es muss endlich wieder möglich werden, Kunst zu machen.“ Natürlich unter stren­gen Hygienebedingungen gar keine Frage. Deswegen war es ja auch für uns so bitter, dass bei der letzten Reform des Infekti­onsschutzgesetzes auch Kulturangebote draußen, unter freiem Himmel, Open Air, ab einen Inzidenz von über 100 grundsätzlich verboten sind, ohne jede Ausnahme. Das ist schon sehr weitge­hend. Da hätte man sich etwas mehr Fantasie in der Politik ge­wünscht. Der Menschbraucht mehr als nur Brot. Er braucht auch geistige Anregung. Eine Gesellschaft kann auch nicht dauerhaft ohne Kultur existieren. Da wünsche ich mir manchmal noch ein bisschen mehr Einsicht bei der Bundesregierung.

Da kann ich mit der nächsten Frage direkt anschließen: Kultur ist immer etwas, was man sich gerne in die Sonntagsrede reinschreibt, aber im Endeffekt ist neben dem Schwimmbad immer die Kultur das erste, was dann gekürzt wird, wenn die Kommune klamm ist. Warum wurde die Kulturbranche in der Pandemie nicht als systemrelevant anerkannt und ärgert Sie das, dass das nicht passiert ist?

Zimmermann: Nein, dass wir nicht als systemrelevant anerkannt wurden, ärgert mich überhaupt nicht. Wir sind nicht systemre­levant und wir wollen nicht systemrelevant sein. Das würde ja heißen, dass unsere Aufgabe die Stützung eines Systems wäre. Das ist aber nicht die Aufgabe der Kultur. Wir sind, glaube ich, zentral. Wir sind wichtig. Das muss gesehen werden, aber wir sind nicht systemrelevant.

Und ich glaube auch nicht, dass wir vergessen wurden. Ich durf­te als Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates die Verhand­lungen führen über die spezifischen Programme für den Kultur­bereich, „Neustart Kultur 1“ und „Neustart Kultur 2“ mit einem Fördervolumen von zwei Milliarden Euro. Im Moment führen wir gerade mit dem Bundesfinanzministerium die Verhandlungen über eine Wirtschaftlichkeit- und über einen Ausfallfonds, die für das Wiederanfahren des Kulturbereiches gedacht ist, noch einmal 2,5 Milliarden Euro zusätzlich. Diese Förderungen sind zusätzlich zu den Wirtschaftsförderungen, die alle erreichen sollen.

Der Staat hat sich, glaube ich, nicht lumpen lassen, was die finan­zielle Entschädigung im Kulturbereich angeht. Natürlich kann man nicht die vollständigen Einnahmeausfälle des Kulturbereiches ent­schädigen. Das hat auch keiner erwartet. Ich glaube, wo es ein Defizit gibt, ist die grundsätzliche Wahrnehmung der Tatsache, dass eine Gesellschaft ohne Kultur ganz schnell verkümmert.

Wir würden ja auch nicht auf die Idee kommen, die Krankenhäu­ser zu schließen und zu sagen: „Das sind auch Orte, wo ich mich anstecken kann.“ Es ist in der Pandemie leider nicht möglich ge­wesen ein kulturelles Mindestangebot für die Bevölkerung anzu­bieten. Wir sind auch das Alibi in dieser Krise. Immer wurde zuallererst der Kulturbereich geschlossen, also schon direkt An­fang März des letzten Jahres. Im Sommer konnten dann unter sehr strengen Hygienebedingungen einige Kultureinrichtungen öffnen. Aber als ein nochmaliger Lockdown Ende des letzten Jahres anstand, war der Kulturbereich der erste Bereich, der wieder geschlossen wurde. Erst einen Monat später ist dann auch die Gastronomie dazu gekommen.

Und dann noch einmal später ist der Handelsbereich dazu gekommen. Also immer, wenn die Politik ein Signal setzen wollte und sagen wollte: „Die Gesell­schaft muss jetzt heruntergefahren werden“, dann ist ihr immer zuallererst der Kulturbereich eingefallen. Das ist das, was mich wirklich ärgert, weil es dafür keinen nachvollziehbaren Grund gibt. Das heißt aber nicht, dass wir nicht akzeptieren, dass der Kulturbe­reich heruntergefahren werden musste und dass wir im Moment nicht ins Theater gehen können, dass wir nicht in Konzerte oder in Clubs gehen können. Das wissen wir ja auch, dass das nicht geht. Weil wir ja auch wollen, dass dieser vermaledeite Virus endlich besiegt wird. Aber immer zuerst die Kultur, ist ein falsches Signal

Herr Prof. Dr. Rosenbrock, können Sie vielleicht schon einen Ausblick geben, was wir vielleicht alle insgesamt oder die Po­litik aus dieser Pandemie lernen können? Was wird bei der nächsten Pandemie, bei Covid 20 oder so, besser gemacht?

Rosenbrock: Man könnte natürlich gesundheitspolitisch vieles sehr viel besser machen. Man könnte einfach die Disaster Prepa­redness, wie es heißt, verbessern. Da gab es ja entsprechende Hinweise, was zu tun ist, denen vom Staat nicht gefolgt wurde. Man könnte die gesamte Prävention besser organisieren. Das ist ja bislang ein reines Top-down-Geschehen, wo der allmächtige Staat den Bürgerinnen und Bürgern sagt, was sie dürfen und nicht dürfen. Anstatt einen partizipativ gestalteten Dialog zu halten- „Wie gehen wir alle zusammen, mit der uns alle bedrohenden Gefahr von diesem Virus um?“ Und das hätte natürlich auch zur zielgruppenspezifischen Prävention geführt. Das hätte auch dazu geführt, dass man nicht nur eben Alte und Vorerkrankte als Ri­sikogruppen gesehen hätte, sondern eben auch Arme. Wir haben da im Kompetenznetz Public Health Covid-19 schon im März 2020 darauf hingewiesen, dass Armut genauso wie Vorerkran­kung, genauso wie Alter, ein sehr erheblicher Prädiktor sowohl für Infektion als auch für schweren Verlauf und Tod ist.

Jetzt kommt man in Köln Chorweiler und auch hier bei unseren Straßenambulanzen darauf zu sagen: „Ja, ja, die müssen jetzt alle geimpft werden.“ Das hätte man alles besser machen können und vorher überlegen können. Aber mir ist wichtig, dass klar gewor­den ist, und da schließe ich mich auch gerne an das an, was Herr Zimmermann gesagt hat: eine Gesellschaft ohne Kulturangebote verkommt. Die verlottert sozusagen. Da gibt es keinen Fokus mehr, auf die sich Wahrnehmung, Diskussion, Kontroverse, auf die man sich beziehen kann. Und das heißt am Ende der Pande­mie, die werden wir im Herbst als gesundheitliches Problem wohl überwunden haben, dann kommt die Bewältigung der Folgen, dass man fragt: „Was brauchen wir in jedem Falle, egal wie die Lage ist? Was ist in diesem Sinne systemrelevant?. Jetzt nicht, um den Betrieb aufrecht zu erhalten, sondern zum Überleben als Gesellschaft.

Und da kommt aus meiner Sicht heraus, dass wir sehen werden, dass neben Krankenversorgung und Kultur und Bildung eben auch eigentlich, vor allem die Bereiche zum Überleben notwendig sind, die noch nicht nach Gewinngesichtspunkten organisiert sind, son­dern die noch eine – wenn auch häufig schon beschädigte - Ge­meinwohlorientierung haben. Und aus meiner Sicht ist die wich­tigste Folgerung aus der Pandemie, dass wir überlegen müssen, was sind die Sektoren, in denen wir in Zukunft auch sagen müs­sen: „Vorfahrt für Gemeinnützigkeit!“ Wir müssen aus wesentli­chen Bereichen der Gesellschaft das Profitmotiv, das Gewinnmo­tiv, soweit es schon eingedrungen ist, wieder eliminieren, wie das Virus. Wir müssen sozusagen Mechanismen finden, wie wir diese Bereiche verlässlich vor diesem Einfluss der immer weiteren Kommerzialisierung, Gewinnorientierung und Verbetriebswirt­schaftlichung schützen.

Kultur und Gesundheit teilen ja auch das. was man einem Dikt­um von Albert Einstein folgend, so formulieren kann: Nicht alles, was zählt, kann man zählen und nicht alles, was man zählen kann, zählt. Das gilt für die Zuwendung am Krankenbett und ebenso für die Produktion und die Rezeption kultureller Werke. Die sind nicht betriebswirtschaftlich voll zu erfassen. Die Vorstellung, dass wir das alles mit einer besseren Kostenrechnung effektiver und schöner hinkriegen ist einfach verfehlt.

Zimmermann: Ich finde das sehr spannend, was Herr Rosen­brock gesagt hat. Ich glaube, er spricht genau den Bereich an, der ja für uns die wirkliche Herausforderung bedeutet. Was kommt nach der Pandemie? Ich glaube, es gibt eine gesellschaft­liche Erschütterung, wie ich sie mir in Deutschland hätte nie vor­stellen können, die auch in meinem Leben bisher nicht denkbar gewesen ist. Es ist eine Gesellschaft, die in eine existenzielle Unsicherheit gestürzt worden ist. Diese Pandemie hat die Ver­letzlichkeit unserer Gesellschaft gezeigt, die wir uns ja so eigent­lich gar nicht mehr vorstellen konnten und das ist eine Erschüt­terung, die wir in den nächsten Jahren gemeinsam aufarbeiten müssen.

Wir müssen ja irgendwann wieder anfangen, uns auch näher zu kommen. Im Moment sehen wir in den Straßen-, in den U-Bahnen und Bussen wie die Menschen alle versuchen, einander auszuwei­chen, sich aus dem Weg zu gehen. Wenn jemand einem zu nahekommt, empfindet man das wie einen persönlichen Angriff. Wir werden das überwinden müssen, wenn wir uns wieder nahekommen dürfen.

Wir sehen eine große Veränderung in den Städten. Also dort, wo sich der Mensch früher hauptsächlich, außerhalb seines Wohnraums, aufgehalten hat, die sind ver­ödet, die Einkaufszonen sind leer. Ich glaube nicht, dass das einfach so wie früher sein wird, wenn die Pandemie vorbei ist. Wir werden ein riesiges Geschäftssterben ha­ben. Wir müssen uns überlegen, was soll eigentlich in der Zukunft in unseren Innen­städten stattfinden. Ich glaube, wir brau­chen hier mehr sogenannte Dritte Orte, also nicht kommerzielle Orte, wo sich die Menschen treffen können, wo sie zusammenkommen können, wo man einfach auch miteinander leben kann. Das wird eine enorme Herausforderung, weil die Kulturstrukturen und die Kultureinrichtungen, wie wir sie heute haben, sind auch diese Aufgabe noch gar nicht vorbe­reitet. Wir werden das nur Schaffen, wenn wir das mit vielen anderen gemeinsam machen. Wir werden eine nachkommerzi­elle-Einkaufsstraßenzeit erleben.

Es wird spannend werden, wie wir diese Aufgabe bewältigen werden. Das wird der Kulturbereich allein nicht hinbekommen. Hier müssen wir mit den anderen Bereichen in einem ganz engen Schulterschluss zusammenarbeiten. Ich glaube, dass die Nach-Co­ronazeit eine unglaublich spannende, aber auch eine unglaublich herausfordernde Zeit für uns werden wird.

Welche kulturelle Veranstaltung oder - Einrichtung werden Sie nach dem Lockdown zu allererst aufsuchen?

Rosenbrock: Also wenn Sie mich fragen, es gibt drei Orte, die ich wirklich vermisse. Das ist einmal die Konzerthalle, die Phil­harmonie an der Spitze. Das ist zum zweiten das Museum, was ich wirklich vermisse und es ist auch das Berghain.

Zimmermann: Ich freue mich darauf in ein Kino zu gehen, das Rappel voll ist. Wo hinter mir jemand schmatzend Taccos isst und neben mir die Leute Popcorn in sich hinein stecken. Etwas, was ich bisher zu tiefst gehasst habe. Ich habe bisher gesagt: „Es ist so schrecklich. Ich kann keinen Film in Ruhe sehen. Es wäre doch schön, das Kino wäre ganz leer und ich wäre ganz alleine in diesem Kino.“ Und mein Wunsch hat sich, wenn Sie so wollen, um 180 Grad gedreht, denn ich würde es ganz toll finden, ich würde mich mal wieder richtig aufregen können über die Leute, die um mich herumsitzen und in den Kinofilm hineinquatschen. Ach, ich möchte gern wieder Kultur mit Menschen erleben. Da wäre es mir ganz egal, wo das wäre, aber mal wieder richtig eng und vielleicht sogar mal wieder ein bisschen zu eng miteinander. Das wäre schön.

Aktuell läuft auf allen Social Media-Kanälen die Themenwoche „Gute Pflege & Gesundheitsversorgung für alle!“ im Rahmen unserer Bundestagsoffensive „Geh wählen, weil ALLE zählen!“  

Das Interview führte Philipp Meinert.

Der Beitrag erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe unseres Verbandsmagazins „Der Paritätische“ mit dem Schwerpunkt „Menschen statt Märkte“.


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Portrait von Philipp Meinert

Philipp Meinert

Philipp Meinert verantwortet beim Paritätischen Gesamtverband den Bereich Presse und Redaktion. Für das Verbandsmagazin des Paritätischen Gesamtverbandes schreibt er Artikel und führt Interviews.

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