Der Verein "Wohnen wie ich will" hat ein tolles inklusives Wohnprojekt in Kiel realisiert, in dem behinderte mit nicht-behinderten jungen Menschen zusammenleben. Trotz großem Wohlwollen war der Weg nicht leicht. Jetzt fehlt es noch an Pfleger*innen. Wir sprachen mit Ingrid Bolz von "Wohnen wie ich will."

Frau Bolz, können Sie mir das Konzept von „Wohnen wie ich will“ erklären?

Wir sind ein Elternverein, der sich 2016 mit 10 Familien in der Initiative “Wohnen wie ich will” zusammengefunden hat. Unser Ziel war es, für unsere inzwischen erwachsenen Kinder und Jugendlichen mit einem Assistenzbedarf „rund um die Uhr“ das Wohnen in einem inklusiven Wohnprojekt in Kiel zu verwirklichen. Leider gibt es in Kiel entweder keine Wohnplätze und wenn doch, dann sind die Wohnmöglichkeiten hauptsächlich auf Angebote mit vollstationärem Charakter in einer Wohnstätte ausgerichtet. Wir alle haben uns und unsere Kinder in den gängigen Wohnstätten nicht wiedergefunden, weil dort oft wesentlich ältere Menschen leben. Für meinen Sohn, der jetzt 24 wird, kann ich mir nicht vorstellen, dass er mit 50- oder 60-jährigen zusammenlebt. Wir haben uns ein Konzept überlegt und uns dabei von inklusiven Projekten in anderen Städten inspirieren lassen, in denen junge Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam zusammenleben. Bewohner*innen ohne Behinderung können dort ihre Miete gegenfinanzieren, indem sie für ihre Mitbewohner*innen mit Behinderung Assistenzleistungen erbringen. So können Studierende günstig wohnen und unterstützen im Gegenzug Menschen mit Behinderung. Diese Projekte haben uns sehr fasziniert.

Und wie sah dann die konkrete Umsetzung aus?

Wir haben uns mit diesem inklusiven Konzept an die Kieler Kommunalpolitik gewandt und sind auf einen Stadtrat gestoßen, der sich dafür begeisterte. Kontakt zu Wohnungsbaugesellschaften waren schnell vermittelt und mit der nötigen Unterstützung aus der Stadtpolitik waren wir mit im Boot bei einem der größten Wohnungsbauprojekte, die Kiel zurzeit zu bieten hat.

2018 haben wir uns als Verein aufgestellt. Das war hilfreich, um mit allen Beteiligten auf Augenhöhe verhandeln zu können und als Vertragspartner respektiert zu werden.

2020 war Spatenstich an der Baustelle an der Kieler Hörn und im Juni 2023 war alles bezugsfertig.

Entstanden ist eine 500 m² große Wohnung mit elf Apartments, von denen jedes ein eigenes Bad hat, auch ein Pflegebad für die Bewohner*innen mit Behinderung ist vorhanden.

Zentral befindet sich ein 70 m² großer Gemeinschaftsraum mit Küche, Sitzecke und Fernseher. Dort kann gemeinschaftliches WG-Leben stattfinden. Aber jeder hat natürlich sein eigenes Apartment als Rückzugsort. Wir haben auch einen eigenen Personalraum vorgesehen, damit die WG-Bewohner*innen auch unter sich sein können und Mitarbeiter nicht die ganze Zeit (Personal) präsent ist.

Wer wohnt bei ihnen?

Geplant ist, dass in der WG sechs Menschen mit einer wesentlichen körperlichen und/oder geistigen Behinderung mit fünf Personen ohne Behinderung – die nicht zwingend, aber ganz überwiegend Studierende sein werden – zusammenleben.

Zurzeit wohnen fünf Studierende in der Wohnung. Diese konnten am 1. Juni bereits einziehen. Der Einzug der Bewohner*innen mit Behinderung ist bis heute nicht möglich, da es noch an professionellem Personal fehlt. Denn die Studierenden sind ja nur für die Freizeitbegleitung zuständig. Alle Zimmer sind fertig eingerichtet, alle könnten morgen schon einziehen.

Leider haben sich die Verhandlungen mit der Stadt über die Bedarfe mit der Eingliederungshilfe sehr in die Länge zogen. Wir haben unterschätzt, dass sich Ämter mit innovativen Projekten doch sehr schwer tun, da es noch keine Blaupause gibt, nach der man vorgehen kann.  Auch wenn es  negiert wird: es geht in Zeiten knapper Kassen natürlich auch um Geld.

Nun sind die Bedarfsverhandlungen fast beendet, seit 4 Wochen sind die Stellen endlich ausgeschrieben und nun stehen wir vor dem nächsten Problem, dass sich kaum jemand bewirbt, weder als Heilerziehungspfleger*in/ Erzieher*in noch als Pflegepersonal.

Ingrid Bolz mit ihrem Sohn Andreas. © Thomas Eisenkrätzer

Warum ist das so?

Natürlich ist da ursächlich der allgemeine Fachkräftemangel zu nennen.

Darüber hinaus arbeitet der Leistungsanbieter, der in der WG für Pflege und pädagogische Betreuung sorgen wird, wie viele gemeinnützige Einrichtungen permanent am Limit. Hierdurch leidet auch der Bereich „Personalgewinnung“. Die Ausschreibung müsste prägnanter sein. Aktuell wird sich jetzt jemand nur um das Thema „Personalrecruiting“ kümmern. Es soll bei unserem Projekt nachdrücklicher beworben werden, welche Besonderheiten es hat: dass Studierende als Assistenzkräfte mitarbeiten, dass die Räumlichkeiten in einem Neubau optimal sind und dass sich das Ganze in einer attraktiven Lage in Kiel befindet. Die Bewohner sind alle unter 40. Es ist schon ein bisschen etwas anderes als die normale Wohnstätte. Und es soll auch unbedingt in den sozialen Medien beworben werden.

Mal allgemeiner gefragt: Wie kann man die Pflege wieder attraktiver machen?

Das weiß ich gar nicht. Mein Eindruck ist, dass die Standards nicht mehr so akzeptiert werden. Viele wollen nicht mehr zu irregulären Arbeitszeiten arbeiten und die Ansprüche an den Arbeitgeber sind sehr gewachsen. Die Work-Life-Balance muss halt stimmen. Viele wollen nicht mehr Vollzeit arbeiten. Freizeit hat heute mehr Bedeutung. Auf der anderen Seite wird die Pflege auch wieder etwas attraktiver, wenn ich mir die Tarifabschlüsse ansehe. 30 Tage Urlaub im Jahr, was auch nicht selbstverständlich war, sind meistens Standard. Hinzu kommen Jobtickets, hier in Kiel kommt auch kostenloses Fahrradleasing dazu. Ich habe schon das Gefühl, dass sich bemüht wird, die Pflege wieder attraktiver zu machen.

Na dann, sie können jetzt einen Aufruf an potentielle Bewerber*innen machen, die bei Ihnen arbeiten sollen.

Wer Lust hat, an einem neuen Wohnkonzept für Menschen mit Behinderung mitzuarbeiten ist herzlich willkommen. Dieser attraktive Wohnplatz für junge Leute mit Behinderung ist mehr als eine Wohnstätte. Durch das inklusive Konzept erfahren Menschen mit Behinderung maximale Teilhabe – inklusiver als das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung geht es kaum. Wer sich hier einbringen möchte, soll sich unbedingt bewerben. Geboten wird eine angeregte Atmosphäre in einer jungen Wohngruppe, die sicherlich auch Platz für eigene Ideen offen lässt. (Anm.: Hier kann man sich bewerben)
 

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Dieser Beitrag erschien zuerst in unserem aktuellen Verbandsmagazin zum Thema: Pflege. 2021 waren knapp fünf Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Angesichts einer älter werdenden Gesellschaft wird diese Zahl immer weiter zunehmen. Das stellt die gesamte Gesellschaft vor Herausforderungen. Es fehlt an Personal, an Geld und an barrierefreien Wohnungen und auch die Folgen der Corona-Krise sind immer noch spürbar.

Als Paritätischer Gesamtverband vertreten wir zahlreiche Einrichtungen, in denen jeden Tag mit Professionalität, Liebe und Aufopferung Menschen gepflegt werden. Pflege ist mehr als waschen und füttern. Es bedeutet, sich um jemanden zu kümmern, ihm oder ihr Sicherheit zu geben und ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Und manchmal auch einfach menschliche Nähe zu geben.

In diesem Magazin schauen wir auf die Vielfalt der Pflege, denn kein "Pflegefall" ist wie der andere. Dazu schauen wir, welche Alternativen es zur klassischen Heimpflege gibt, wie Senior*innen in Einrichtungen vor Hitze besser geschützt werden können und wie respektvolle Pflege stigmatisierter Menschen funktioniert. Außerdem fragen wir, wie Migrant*innen der Pflegeberuf attraktiv gemacht werden kann und wie die Digitalisierung im Pflegealltag helfen kann. Und wir sagen, warum wir als Paritätischer für die Pflegevollversicherung sind und was das ist.

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Portrait von Philipp Meinert

Philipp Meinert

Philipp Meinert verantwortet beim Paritätischen Gesamtverband den Bereich Presse und Redaktion. Für das Verbandsmagazin des Paritätischen Gesamtverbandes schreibt er Artikel und führt Interviews.

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