Interkulturelle Öffnung ist eine soziale Herausforderung, der sich Familienbildungsstätten stellen müssen, sagt Prof. Dr. Veronika Fischer. Die Erziehungswissenschaftlerin empfiehlt, Mitarbeiter*innen mitzunehmen und Schritt für Schritt vorzugehen.

Frau Fischer, warum ist es für Familienbildungsstätten besonders wichtig, sich interkulturell zu öffnen?

Nicht nur für Familienbildungseinrichtungen, sondern für alle Institutionen und Organisationen ist es wichtig, Arbeitsweisen zu finden, die alle Menschen und Potenziale unserer Gesellschaft berücksichtigen. Der Begriff der interkulturellen Öffnung (IKÖ) umfasst daher über die kulturelle Dimension hinaus noch andere Aspekte. Migration hat sich als ein zentraler Treiber für den demografischen Wandel herausgestellt. Jede vierte Person in Deutschland hatte 2018 einen Migrationshintergrund. Die zugewanderte Bevölkerung ist kein homogener Block, sondern durch eine Vielfalt von Herkunftsländern, Sprachen, Migrationsbiografien, Religionszugehörigkeiten etc. geprägt. Hinzu kommen teils ausländer- und asylrechtliche Bestimmungen, die den Rechtsstatus und die Bleibeperspektiven der Betroffenen einschränken.

Weiterhin ist zu bedenken, dass es besondere Belastungen bei einem Teil der Zugewanderten gibt – wie etwa Traumatisierungserfahrungen vor oder während einer Flucht oder Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Rassismus und Gewalt vor Ort. All diese Aspekte müssen von Bildungseinrichtungen berücksichtigt werden, wenn ihre Angebote lebensweltorientiert zu Bedarfen und Bedürfnissen der Adressat*innen passen sollen.

Ist dies in der Vergangenheit nicht ausreichend gelungen?

Viele Einrichtungen haben sich bereits seit langem auf den Weg gemacht und erste Erfolge erzielt. Das Konzept der interkulturellen Öffnung, das Mitte der 1990er Jahre in der Sozialen Arbeit entwickelt und von Familienbildungseinrichtungen übernommen wurde, ist letztlich im Grunde das Eingeständnis von Schließungsmechanismen. Diese führten dazu, dass bestimmte Gruppen nicht erreicht werden konnten. Dazu gehörten nicht per se Zugewanderte, sondern vor allem Menschen mit niedrigem oder fehlendem Schulabschluss, geringem Haushaltseinkommen, niedriger Stellung im Beruf und Arbeitslose. Erwachsene mit Migrationshintergrund zählen häufiger zu diesen Gruppen als andere Menschen. Sie besuchen seltener Weiterbildungs- und Familienbildungseinrichtungen.

Ob sich ein Mensch an Weiter- und Familienbildung beteiligt, liegt also nicht in erster Linie am Migrationshintergrund, sondern an der Verbindung verschiedener Faktoren wie dem Mangel an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. Insofern bietet es sich an, generell von der Notwendigkeit einer institutionellen Öffnung zu sprechen, die möglichst alle Faktoren identifiziert, die Barrieren für eine Teilhabe darstellen können.

Der von Ihnen verfasste Praxisleitfaden “Interkulturelle Öffnung in der Familienbildung” ist 250 Seiten lang. Was sind die wesentlichen Zielsetzungen, die aufgegriffen werden?

Der Praxisleitfaden ist sehr umfangreich, da er primär als eine Art Nachschlagewerk für haupt- und nebenberuflich Tätige in der Familienbildung gedacht ist. Wesentliche Ziele sind unter anderem, für die interkulturelle Öffnung von Einrichtungen zu werben, praktikable Verfahren zur Sozialraumanalyse aufzuzeigen, Anregungen zur Umsetzung bereits erfolgreich erprobter Veranstaltungsmodelle und Familienförderprojekte zu geben, Synergie-Effekte bei der Vernetzung mit anderen Organisationen aufzuzeigen sowie Fragen der Organisation, Finanzierung, Planung und Durchführung von Veranstaltungen zu klären.

Die Broschüre erscheint in einer erweiterten Neuauflage. Was glauben Sie, warum sie so erfolgreich ist?

Die Broschüre hat ein Alleinstellungsmerkmal in der Publikationslandschaft zum Thema „Familienbildung im Migrationskontext“. Sie bietet einrichtungspraktische Informationen, wie ein Prozess „interkultureller Öffnung“ überhaupt umgesetzt werden kann. Halit Öztürk und Sara Reiter haben 2017 in einer NRW-weiten Studie herausgefunden, dass viele Einrichtungen zwar eine Strategie interkultureller Öffnung befürworten, sie aber nicht umsetzen. Das liegt unter anderem an einer gewissen Unsicherheit, wie so ein strategisches Konzept realisiert werden kann. Daran knüpft der Leitfaden an und gibt praktische Hinweise und Empfehlungen.

Sie sprechen darin von einem “interkulturellen Gesamtkonzept” für eine Einrichtung. Was bedeutet das für einen Aufwand? Wie kann man die Mitarbeiter*innen dabei mitnehmen?

Das Konzept umfasst alle Ebenen der Organisation. Seine Umsetzung ist im Sinne einer lernenden Organisation zu verstehen, die sich für längere Zeit auf einen Weg der Umgestaltung begibt. Zunächst sollte man sich über das Leitbild der Organisation verständigen, aus dem sich wertorientiert Leitlinien und Ziele für die Angebotsplanung ableiten lassen. Ein solcher Prozess muss von allen Mitarbeitenden getragen werden, was auch bedeutet, dass sie durch Fortbildungen für die vielfältigen Anforderungen qualifiziert werden müssen. Die Kommunikation mit dem Team ist ein Herzstück in diesem Prozess.

Mittelfristig sollte auch das Team vielfältig zusammengesetzt sein, was eine entsprechende Personalpolitik nach sich zieht. Schließlich sollten unter anderem niedrigschwellige Bildungsangebote entwickelt und entsprechende Methoden aufsuchender, sozialraumorientierter Bildungsarbeit zum Einsatz kommen, um benachteiligte Gruppen besser erreichen zu können. Diese Ansätze sind besonders vielversprechend, wenn sie durch eine Kooperation und Vernetzung flankiert werden, die unter anderem Migrationsdienste und Migrant*innenselbstorganisationen mit einbezieht.

Stellt IKÖ nicht eine weitere Herausforderung unter vielen dar, die kaum noch zu bewältigen sind? 

Interkulturelle Öffnung als Teil eines Diversity-Konzepts ist eine zentrale Herausforderung, die nicht einfach ignoriert werden kann. Die Vielfalt der Gesellschaft muss sich auch in den Einrichtungen der Familienbildung widerspiegeln, sonst verliert die Familienbildung den Anschluss an die gesellschaftliche Entwicklung. Insofern haben die Einrichtungen gar keine Wahl, sie müssen sich gerade im Hinblick auf die demografischen Veränderungen auf die neuen Adressat*innengruppen einstellen. Um diese Herausforderung bewältigen zu können, ist der Prozess langfristig anzulegen. Um Organisation und Belegschaft nicht zu überfordern, sollten die Akzente der Organisationsentwicklung – je nach Arbeitskapazitäten und organisatorischen Rahmenbedingungen – Schritt für Schritt angelegt werden.

Wie profitieren die Familien von der interkulturellen Öffnung einer Familienbildungseinrichtung?

Letztlich profitieren die Familien von der interkulturellen Öffnung der Einrichtung, weil sie sich durch neue Strategien der Öffentlichkeitsarbeit angesprochen fühlen und auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Angebote und Veranstaltungsarrangements vorfinden. Sie treten mit Mitarbeitenden in Kontakt, die gegebenenfalls ihre Herkunftssprache sprechen und sich empathisch in der Kommunikation verhalten.

Wie kann man Zugangsbarrieren zu Angeboten der Familienbildung für alle Zielgruppen verringern oder ganz abschaffen?

Es hat sich gezeigt, dass es wichtig ist, Werbung über Mund-zu-Mund-Propaganda statt zum Beispiel mittels Printmedien zu machen. Hier zählt die direkte Ansprache über Multiplikator*innen – gegebenenfalls mit Kenntnissen der Muttersprache der Adressat*innen, Ansprache durch Kooperationspartner*innen aus Netzwerken und Einrichtungen der Migrationsarbeit oder Migrant*innenorganisationen. Um die Zielgruppen zu erreichen, haben sich außerdem unter anderem folgende Rahmenbedingungen als günstig erwiesen: niedrigschwellige Angebote, aufsuchende Elternarbeit, niedrige Gebühren, Kinderbetreuung und die Zusammenarbeit mit Dolmetscher*innen. Wenn der Kontakt erst einmal hergestellt ist, Einrichtung und Angebote bekannt sind, werden aus den angesprochenen Personen oftmals treue Nutzer*innen.

Welche Kontakte zur Vernetzung mit Partner*innen aus dem Bereich IKÖ sind für eine Familienbildungseinrichtung wichtig?

Kooperation und Vernetzung werden angesichts komplexer Aufgaben immer wichtiger, weil sie helfen, Parallelstrukturen zu vermeiden, gemeinsam Synergie-Effekte zu erzielen und angesichts von Sparmaßnahmen noch handlungsfähig zu bleiben. Partner der Familienbildung sind zum Beispiel andere Bildungsinstitutionen wie Schulen und Kitas als vertraute Orte im Quartier. Hilfreich sind auch Migrationsberatungsstellen, weil die dort beratenden Fachkräfte als Schlüsselpersonen fungieren können, die Informationen über Angebote der Familienbildung weitergeben. Schließlich sei auch auf Migrant*innenorganisationen verwiesen, die oft als „Brücke“ zwischen ihrer Community und den Einrichtungen dienen.

Es gibt einige Abschnitte in Ihrem Leitfaden, in denen sich Organisationen selbst checken können, zum Beispiel die “Checkliste Sozialraumanalyse”, bei der es um das Zusammenleben im Quartier geht. Was versprechen Sie sich von diesen praktischen Einschüben innerhalb des Leitfadens?

Diese Hinweise sind deshalb zielführend, weil Orientierungen gegeben werden, wie interkulturelle Öffnung praktisch realisiert werden kann – zum Beispiel als Öffnung zum Sozialraum.

Was möchten Sie den Familienbildungseinrichtungen mit auf den Weg geben?

Familienbildungseinrichtungen sind Foren des interkulturellen Dialogs. Angesichts zunehmender Wertekonflikte (Rolle der Frau, Beschneidung, arrangierte Ehen etc.), Islamismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus sollten sich Weiterbildungseinrichtungen zunehmend als Seismografen brisanter gesellschaftlicher Entwicklungen verstehen. Entsprechende Themen sollten in die Programmplanung einbezogen und ein gesellschaftlicher Dialog befördert werden.

 

Das Interview erschien im Blog „Bildung erleben“ der Paritätischen Akademie NRW.


Zur Person

Dr. Veronika Fischer, Professorin der Erziehungswissenschaft, langjährige Berufstätigkeit in der Erwachsenenbildung, Lehr- und Forschungstätigkeit an der Hochschule Düsseldorf mit den Schwerpunkten Erwachsenen- und Familienbildung im Migrationskontext, Diversity und Interkulturelle Öffnung. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Paritätischen Akademie NRW.


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Portrait von Florian Schmitz

Florian Schmitz

Florian Schmitz ist Bildungsreferent Öffentlichkeitsarbeit bei der Paritätischen Akademie NRW in Wuppertal. Dort betreut er unter anderem das Blog „Bildung erleben“. Darin geht es um Themen aus der sozialen Arbeit und der beruflichen Fortbildung.

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