Menschen mit Rheuma-Erkrankungen kann die Digitalisierung den Alltag erleichtern. Gerlinde Bendzuck ist Beisitzerin im Vorstand der Deutschen Rheuma-Liga und macht sich stark für die Ausweitung der Angebote.
Frau Bendzuck, Sie haben bezüglich Digitalisierung in der Deutschen Rheuma-Liga einiges angestoßen. Wie haben Sie gemerkt, dass gerade digitale Angebote Rheuma-Betroffenen helfen können?
2015 habe ich meine erste Selbsthilfe-Digitalveranstaltung hier in Berlin organisiert und schon damals gesehen, welche unglaublich großen Chancen die Digitalisierung für eine bessere Diagnostik und Therapie, für mehr Teilhabe, für ein besseres Selbstmanagement digitale Anwendungen auch rheumabetroffenen Menschen, aber eben auch Menschen mit anderen chronischen Krankheiten und Behinderungen bieten können. Schon damals war mir klar, dass es sehr große Herausforderungen für Datensouveränität und Sicherheit oder auch für digitale Barrierefreiheit gibt – patientenorientierte Lösungen dafür realisieren sich nicht von selbst. Da stellen sich viele Fragen: Wie reden wir als Patientinnen und Patienten mit unseren Behandlerinnen und Behandlern und wie reden diese mit uns? Welche Anforderungen an Gesundheitskompetenz gibt es, wie kann diese zeitnah bei Patientinnen und Patienten und bei Behandelnden entstehen? Und natürlich auch das ganze Konzept der Versorgungssteuerung und Vergütung. Das wird durch die Digitalisierung einem grundlegenden Wandel unterzogen. Auf all diese Aspekte versucht die Deutsche Rheuma-Liga Antworten zu finden.“
Welche konkreten Angebote macht die Deutsche Rheuma-Liga?
Bislang gibt es auf dem digitalen Markt für Rheuma nur Insellösungen, wie beispielsweise eine Erinnerungs-App zur Medikamenteneinnahme, ein Schmerztagebuch, Ernährungsratgeber sowie erste digitale Trainings-Unterstützungsangebote. Letzteres wird auch von einigen Landesverbänden der Rheuma-Liga angeboten. Gerade durch die Pandemie wurde diese Entwicklung gefördert. Die Deutsche Rheuma-Liga hat außerdem seit 2016 eine sehr erfolgreiche, eigene Lösung. Diese App heißt „Rheuma-Auszeit“ und steht zur Unterstützung aller Betroffenen kostenlos zur Verfügung. Die „Rheuma-Auszeit“ ist ein kompakter Alltagsbegleiter für Menschen mit Rheuma. Sie wurde bereits über 30.000-mal heruntergeladen und zählt zu den erfolgreichsten deutschen Anwendungen auf dem Markt. Die „Rheuma-Auszeit“ wurde in einem partizipativen Verfahren von der Selbsthilfe entwickelt.
In Entwicklung sind auch – speziell für Rheuma – mehrere therapeutische Angebote zum Monitoring des Krankheitsverlaufs. Diese setzen kommerzielle Firmen und universitäre Forschungsinstitute um. Der Marktgang der Angebote wird in diesem oder nächsten Jahr erwartet. Man muss sich das so vorstellen: Ein von Rheuma betroffener Mensch beantwortet Fragebögen zum täglichen Befinden. Diese strukturierten Informationen werden dann auf einem gesicherten Kanal an eine Ärztin bzw. einen Arzt gehen und dann, wenn erkennbar ist, dass eine entzündliche Aktivität wieder aufflammt, können Patientinnen und Patienten zeitnah einbestellt werden oder auch mit den Ärztinnen und Ärzten chatten. Die Chats entsprechen dann auch der Datenschutzgrundverordnung. Patientinnen und Patienten können so besser mit verfolgen, wie sich ihre Krankheit entwickelt und auch über Therapie-Optionen sowie Therapie-Ziele gemeinsam mit ihren Ärztinnen und Ärzten entscheiden. Wenn digitales Therapiemonitoring auch in Deutschland verfügbar sein wird, ist das aus meiner Perspektive ein sehr großer Qualitätsfortschritt für das Management einer chronischen rheumatischen Erkrankung. Die Therapiesicherheit darf durch die digitalen Komponenten nicht infrage gestellt werden. Ebenso wenig wie die Wahlfreiheit – es muss möglich bleiben weiterhin auch ausschließlich analoge Kanäle zu nutzen.
Welche digitalen Angebote fehlen noch?
Es gibt bei den digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) noch keine Anwendung, die speziell für Rheuma entwickelt wurde. Ich hoffe außerdem, dass es für digitales Krankheitsmonitoring demnächst validierte Instrumente in der Versorgung gibt. Und dass zum Beispiel auch in ein Disease-Management-Programm dann eine digitale Komponente eingepflegt werden kann. Auch dafür kämpft die Patientenvertretung gerade noch. Natürlich möchte ich als Patientin auch spezifische digitale Rheuma Trainingsanwendungen bekommen bspw. von der Rheuma-Liga in ihren Landesverbänden oder natürlich auch medizinische Angebote, für die gesamte Bevölkerung, die ich als rheumakranker Mensch dann nutzen kann.
Und dann wäre es wichtig, dass Patientinnen und Patienten diese oder andere digitale Angebote, wie zum Beispiel ein Schmerztagebuch oder ein Bewegungstracker, in ihre digitale Patientenakte einpflegen können. Auch das ist leider in Deutschland noch Zukunftsmusik. Diese Interoperabilität der Patientenakte könnte vielleicht in zwei, drei Jahre möglich sein. Ich kann aber im Moment als Patientin in Berlin noch nicht einmal Mails - geschweige denn verschlüsselte Mails - mit meiner Rheumatologin austauschen.
Wir müssen aber auch über Ausschlüsse bei der Nutzerinnen- und Nutzerbeteiligung reden. Die auf dem Markt befindlichen digitalen Anwendungen, die sich mit Bewegung beschäftigen, sei bei der Prävention oder als zertifizierte Digitale Gesundheitsanwendung, kurz DiGA, sind bislang noch nicht an die Anforderungen am Menschen mit mittleren oder schwereren rheumatischen Erkrankungen – so wie bei mir – erprobt oder zugelassen. Diese Patientinnen- und Patientengruppe ist dann teilweise direkt ausgeschlossen.
Wer ist ausgeschlossen?
Menschen mit Gelenkprothesen zum Beispiel. Ein Großteil meiner Miterkrankten hat irgendwann im Laufe des Lebens eine Gelenkprothese. Und dann können wir beispielsweise eine neue DiGA für Kniearthrose nicht nutzen. Vorgeblich aus Sicherheitsgründen, praktisch wurde dies bei den eher kleinen Fallzahlen für die Zulassungsstudie nicht mitgetestet. Das sind Kinderkrankheiten eines sich neu aufstellenden digitalen Systems. Sehbehinderte Menschen werden ebenfalls häufig ausgeschlossen. Die Videos in den Apps sind da einfach nicht darauf ausgelegt, sie enthalten keine Untertitel oder sind nicht so gestaltet ist, dass sehbehinderte Menschen mit einer entsprechenden Zweikanalleitung über die Tonspur partizipieren können. Aber genau so sollte eine digitale Gesundheitsversorgung nicht funktionieren. Schon gar nicht wenn gesetzliche Krankenkassen und Versichertengelder im Spiel sind. Durch diese Ausschlüsse vergibt man sich einen nicht unbeträchtlichen Teil der Chancen, die die Digitalisierung in Bezug auf Teilhabe gerade mit sich bringt. Zum Beispiel für Menschen mit unterschiedlichen schweren chronischen Erkrankungen und Behinderungen. Oder für so genannte `bildungsfernere´ Menschen oder Menschen, die nicht so gut deutsch sprechen.
Überwiegend sind ja ältere Menschen von Rheuma betroffen. Werden ältere Menschen auch durch die digitalen Angebote erreicht? Wie ist da Ihre praktische Erfahrung?
Da wir die "Rheuma-Auszeit" datensparsam konzipiert haben, können wir leider keine Aussagen treffen. Studien aus anderen Bereichen, zum Beispiel beim Monitoring von Herzinsuffizienz im ländlichen Raum, sagen ganz klar: Wenn entsprechende Unterstützungsangebote durch Schulungen sicherstellen, dass digitale Infrastruktur vorhanden ist, dann ist die Akzeptanz genauso hoch, weil sie die Lebensqualität erhöht und im Kontext einer chronischen Erkrankung teilhabestärkend und lebenszeitverlängernd erlebt werden. Man muss hier dann allerdings Sorge dafür tragen, dass von Anfang an die Rahmenbedingungen durch eine gute Schulung, gute Information und Unterstützung gegeben sind. Dafür sollten Mittel in unserem Gesundheitssystem bereitgestellt werden. Was Rheuma betrifft muss man hier dann auch noch einmal relativieren: Rheuma ist eben keine Alte-Menschen-Krankheit, sondern ungefähr ein Drittel der Betroffenen ist unter 50. Sogar Kinder und Jugendliche sind betroffen. Ich persönlich habe meine rheumatoide Arthritis mit 25 Jahren bekommen. Mit Menschen mittleren und jüngeren Alters über entsprechende digitale Kanäle zu erreichen, ist in der Regel kein Problem.
Die digitalen Angebote sind ja unbestritten praktisch aber wahrscheinlich kein Ersatz, gerade in der Selbsthilfe, für Nähe und menschliche Zuwendung?
Nein, auf gar keinen Fall möchte man, dass eine lebensverändernde Diagnose wie eine rheumatische Erkrankung, Krebs oder Diabetes mal schnell in einem Videocall mitgeteilt wird. Es muss natürlich Sorge dafür getragen werden, dass tiefergehende Erkrankungen mit einem entsprechenden therapeutischen, direkten Setting begleitet und aufgefangen werden. Selbstverständlich kann ist die Digitalisierung dann für das weitere Monitoring bspw. auch für eine schnellere Diagnosefindung einer seltenen Erkrankung eine wertvolle Unterstützung. Aber wir brauchen unbedingt auch qualifizierte Ärztinnen und Ärzte sowie weiteres medizinisches Personal zum Reden. In einem Moment, wo Diagnosen mit schwerwiegenden Konsequenzen gestellt werden, muss jemand da sein. Und auch da kann Digitalisierung eine wunderbare Brücke bilden und unterstützend sein. Zum Beispiel durch einen regen und schnellen Kontakt zur Selbsthilfe – zu den richtigen menschlichen unterstützenden Strukturen vor Ort. Der Selbsthilfe müssen finanzielle Ressourcen dafür zur Verfügung gestellt werden, um diese Unterstützung vor Ort schnell stattfindet kann, wenn die Betroffenen dies wünschen.
Als letzte Frage: Was ist das nächste Digitalisierungsprojekt, dass die Deutsche Rheuma-Liga angehen wird?
Die Deutsche Rheuma-Liga entwickelt aktuell eine Kommunikationsplattform für rheumakranke Menschen. Dieses Vorhaben begleite ich, als Teil der Projektgruppe. Ich hoffe, dass das eine wirksame Unterstützung wird, damit sich tatsächlich auch Betroffene in Bayern und Schleswig-Holstein noch schneller als bisher finden und auch wieder von den digitalen Räumen – so hat man das bei anderen Krankheiten schon gesehen – in die analogen Räume zurückkommen. Da können die Betroffenen erfahren: Oh, da ist in meiner Nähe jetzt die Informationsveranstaltung, da gehe ich doch mal hin und sehe diesen Menschen live und habe noch mehr Hilfe und Unterstützung. Dieses Projekt ist noch einmal ein großer Beitrag für mehr Teilhabe und Selbstbestimmung im Umgang mit einer chronischen rheumatischen Erkrankung und der Qualifikation, um schneller zu lernen, was sind Strukturen und Informationen im Gesundheitswesen, die mir weiterhelfen.
Dann bin ich auch noch als Patientenvertreterin im gemeinsamen Bundesausschuss mit einigen Kolleginnen und Kollegen dabei zu beraten, wie man digitale Lösungen zum Beispiel in die digitale Patientenakte oder das E-Rezept möglichst Patientinnen- und Patientenorientiert umsetzt. Auch da hoffen wir auf strukturelle Einbindung in neue Lösungen. Patientenbeteiligung sollte überall verpflichtend in allen Entwicklungsstufen vorgesehen werden. Kleines Beispiel dazu: Aktuell ist ein TI-Messenger in der Entwicklung, das ist eine Art "medizinisches WhatsApp". Der Messenger ist bisher nur für die Kommunikation von Ärzten untereinander vorgesehen und für den Austausch von Ärzten mit Patienten. Es ist bisher aber noch nicht vorgesehen, dass Patientinnen und Patienten ihrerseits auf Augenhöhe und selbstbestimmt mit Ärztinnen und Ärzten sprechen können. Wir setzten uns jetzt dafür ein, dass genau diese Spezifikation in der nächsten Ausbaustufe des TI-Messengers noch kommen wird. Damit man als hierbei Patientenorganisation – und da spreche ich auch als stellvertretende Sprecherin des Forums chronisch kranker Menschen beim Paritätischen – eine mindestens mitberatende, wenn nicht mitentscheidende Stimme bekommt, ist hier noch viel zu tun. Wir wollen von Anfang an mitreden können. Denn diese Qualitätsdetails entscheiden letztlich darüber, wie schnell sich die Teilhabe in Bezug auf die Heilung oder Begleitung bei lebenslangen Erkrankungen umsetzen lässt.
Dieser Artikel ist im Verbandsmagazin "Digitalisierung und Wohlfahrt" des Paritätischen Gesamtverbandes erschienen.
Die Digitalisierung ist längst in der Wohlfahrt angekommen. Viele unserer ganz alltäglichen Vorgänge wären gar nicht mehr vorstellbar ohne Laptop, Smartphone und Co. Klient*innen werden online beraten, wir verfügen über spezielle Software für unseren Alltag und Schichten werden nicht mehr über die Pinnwand im Gemeinschaftsraum, sondern per Excel-Tabelle verteilt.
Doch so selbstverständlich, wie wir digitale Angebote nutzen, gibt es auch immer Hürden. Auch hier gilt: Alle müssen mitgenommen werden. Der Paritätische hat mit #GleichImNetz ein eigenes Projekt, um Paritäter*innen mit Hilfe und Ratschlägen zur Seite zu stehen und auch für Neues zu begeistern. Denn Digitalisierung ist auch ein andauernder Prozess, der ständig weitergeht. Täglich erscheinen neue Tools und Möglichkeiten, die es zu entdecken und zu erlernen gilt.
Davon handelt unser aktuelles Verbandsmagazin. Wir schauen, wie sich unsere Mitgliedschaft im Netz bewegt.