Die im Ergebnis sehr erfolgreiche Aids-Prävention der 80er Jahre stand unter der Leitfrage: Wie organisieren wir möglichst schnell und bevölkerungsweit Lernprozesse, mit denen sich die Institutionen und die Bevölkerung – ohne Diskriminierung und maximal präventiv – nachhaltig auf ein Leben mit dem bis auf Weiteres nicht ausrottbaren Virus einstellen können?

Die im Ergebnis sehr erfolgreiche Aids-Prävention der 80er Jahre stand unter der Leitfrage: Wie organisieren wir möglichst schnell und bevölkerungsweit Lernprozesse, mit denen sich die Institutionen und die Bevölkerung – ohne Diskriminierung und maximal präventiv – nachhaltig auf ein Leben mit dem bis auf Weiteres nicht ausrottbaren Virus einstellen können?

Aus der Aids Prävention lernen – eine vertane Chance

Bei allen Unterschieden im Hinblick auf die Wege, Situationen, Wahrscheinlichkeiten, gruppenbezogenen Betroffenheiten und Folgen der Infektion – daraus hätte die staatliche Gesundheitspolitik auch für die Prävention in der Covid-19-Pandemie eine Menge lernen können. Es geht um Aufklärung im empathischen und emphatischen Sinne, um einen gesellschaftsweiten Dialog. Von Anfang an hätte die Botschaft sein müssen, dass Corona für uns alle ein Problem ist; dass Selbstschutz Fremdschutz für besonders gefährdete Menschen bedeutet, also solidarisch ist; dass Prävention von Infektionen mit einem neuen Erreger in jedem Fall experimentelle Gesundheitspolitik mit vielen Unsicherheiten ist; dass neue Erkenntnisse deshalb zu Änderungen der Maßnahmen und der Botschaften führen; dass gesundheitspolizeiliche Eingriffe notwendig sind, aber das persönliche Schutzverhalten die entscheidende Variable bleibt.

Stattdessen war – grob gesprochen – die primäre Botschaft, dass verantwortungsvolle Politiker*innen unter extremem Zeitdruck scharfe Maßnahmen beschließen müssen, um die Ärzt*innen in den Intensivstationen vor Triage-Entscheidungen zu bewahren, und dass die Befolgung der Anordnungen erste Bürger*innenpflicht ist. Die Anordnungen – bis hin zum (aus meiner Sicht notwendigen) Lockdown als massivem Instrument zur Minimierung von Risikosituationen – dienten  letztlich auch der individuellen Verhaltensprävention, aber das ging in dieser strikt top-down verlaufenden Kommunikation weithin unter. Die Augen waren eben durchaus nicht auf gleicher Höhe. Schon damals hätte den Expert*innen allerdings klar sein müssen, dass mit Angst, Schock und Strafandrohung Verhalten zwar kurzfristig stark beeinflusst werden kann, aber eben nicht immer nachhaltig und nicht verlässlich, schon gar nicht in Situationen, auf die der Staat keinen Zugriff hat.

Verhaltensprävention im Rahmen einer Kampagne

Verhaltensprävention nach dem bei Aids bewährten Muster hätte anders ausgesehen: Das Mittel der Wahl für bevölkerungsweite Verhaltensprävention ist die Kampagne, also die systematisch geplante Kombination von Maßnahmen und Projekten, mit denen dauernde Aufmerksamkeit und präventives Verhalten erreicht werden sollen. An die gesamte Bevölkerung und deshalb zielgruppenspezifisch differenziert richten sich – erste Ebene der Kampagne – wenige, einfache und klare Dachbotschaften (Solidarität, Abstand, Hygiene, Maske, Lüften, Testen, Impfen) und Erklärungen über Tröpfcheninfektion, Aerosole, exponentielles Wachstum, Präventionswirkungen und Ähnliches mehr, die über sämtliche verfügbaren Medien (also nicht nur im Netz) unentrinnbar und in immer neuen Varianten gesendet werden. Klar: auch für Corona gibt es vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine Dachkampagne »Gemeinsam gegen Corona«, aber gegenüber den bisherigen Gesundheitskampagnen in Deutschland »Aids geht alle an«, »Trimm Dich«, »Erst klicken, dann starten«, »Der siebte Sinn« – ältere Leser*innen werden sich erinnern – ist die Durchdringung doch ziemlich gering und die Kreativität eher bescheiden. Die Botschaften beziehungsweise Teilkampagnen müssten nach dem State of the Art so konzipiert sein, dass sie in ihrer Gesamtheit die Menschen aller Altersstufen, Gender, Bildungsgrade, Sprachen, Kulturen und Persönlichkeitstypen (vom »risk taker« bis zur*m Phobiker*in) kognitiv erreichen und emotional ansprechen – wir erinnern Hunderte von Spots, Anzeigen und Plakaten. In der Kampagne »Gemeinsam gegen Corona« findet sich davon (fast) nichts.

Partizipation als Schlüssel zur Prävention

Umgesetzt werden diese Botschaften in Lebenswelten, Kitas, Schulen, Betrieben, Freizeiteinrichtungen, Pflegeheimen, Kiez und Dorf. Dort – auf der zweiten Ebene der Kampagne – eignen sich die Menschen den Inhalt dieser Botschaften an, überwiegend spontan, aber – wo es geht und sinnvoll ist – gestützt, beschleunigt und präzisiert durch professionell begleitete Projekte und Prozesse, modellhaft, auf ähnliche Lebenswelten übertragbar. Auch hier gilt: Partizipation ist der Schlüssel zur Prävention. Es hätte die große Stunde der von der GKV betriebenen Lebenswelt-Prävention werden können – die Zugänge zu Tausenden von Lebenswelten, die vorhandene Professionalität und die extrem hohe Bereitschaft hätten hervorragende Chancen geboten, um Corona in die GKV-Prävention zu integrieren. Die »Corona-Regeln« hätten gemeinsam mit denen, die mit ihnen leben sollen, beredet, sinnvoll adaptiert, verbindlich gemacht und eingeübt werden können. Insbesondere in der »Wirtschaft ohne Kund*innenkontakt«, die ja auch im Lockdown kaum heruntergefahren wurde und erst jetzt, mit circa einem Jahr Verspätung, als Präventionsproblem endlich wahrgenommen wird, hätte dies frühe und deshalb große Wirkung haben können. Stattdessen befreite das Pandemie-Gesetz im Frühjahr 2020 die Kassen von der Verpflichtung, die für Lebenswelt-Prävention vorgesehene Summe von circa 500 Millionen Euro im Jahr 2020 auch wirklich auszugeben. Auch so kann man »sparen«.

Persönliche Beratung

Die dritte Ebene einer als Kampagne betriebenen Verhaltensprävention ist die persönliche Beratung. Infektionsepidemien stiften Angst und Unsicherheit: Infektionswege, Risiken und Risikomeidung sind – trotz und wegen heftiger Information – unklar, ebenso gesundheitspolizeiliche Regelungen und Pflichten, Fragen zur Epidemiologie, zum Test und zur Testsicherheit, zum Erkrankungsrisiko und -verlauf – für all das braucht es eine kompetente und barrierefrei erreichbare autoritative Information und empathische Beratung. In der Aids-Kampagne übernahmen das die Aids-Hilfen, Gesundheitsämter und Hotlines, unter anderem der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Eine vergleichbar leistungsfähige und leicht auffindbare Infrastruktur der persönlichen Beratung sucht man bei Corona vergeblich, stattdessen viele wilde Gerüchte, Fakes und Unsicherheit.

Warum wurde die Chance vertan?

Warum wurde die in der Aids-Prävention akkumulierte und vielfach wissenschaftlich gesicherte Expertise nicht beachtet, genutzt und weiterentwickelt? Die Frage wird künftige Forschung über Beratungsstrukturen, beteiligte Wissenschaftsdisziplinen und Entscheidungsprozesse zu beantworten haben. Als Arbeitshypothese mag gelten, dass die staatlichen Akteure in den ersten Wochen der Pandemie eher unter Panik das getan haben, was der Staat kann: verbieten, gebieten, anordnen und Geld einsetzen. Risikokommunikation stand da nicht im Vordergrund, kognitiv fundierte Aufklärung wurde – mit guter Qualität, aber geringer, schichtenspezifisch eingegrenzter Reichweite – von Wissenschaftlern wie Christian Drosten, Karl Lauterbach, Lothar Wieler und anderen geleistet. Die dafür zuständige BZgA wurde ihrer Aufgabe nicht gerecht und beschränkte sich weitgehend auf Sachinformationen im Netz.

Wird aber – wie es dann geschehen ist – ein Thema wie die Pandemie öffentlich nicht mehr als Gesundheitsproblem, sondern im für staatliche Krisenbekämpfung üblichen Kommunikationsmodus abgehandelt, ist es schwer, auf partizipativ-dialogische Diskursformen zu wechseln. Dann wird nicht mehr über die Angemessenheit und Wirksamkeit von Maßnahmen und Möglichkeiten ihrer dezentralen und zielgruppenspezifischen Adaption und Verbesserung geredet, sondern über »liberale« oder »strenge« Konzepte, über – virologisch und epidemiologisch gesehen – Unsinnigkeiten wie »verlässliche Lockerungsperspektiven« und mehr.

Am Wissen über angemessene Formen der Risikokommunikation hätte es hingegen von Anfang an nicht fehlen müssen: Die akademische Expertise zu ressourcenfördernden und zielführenden Formen der Verhaltensbeeinflussung ist in Deutschland vorhanden, auch die Erfahrungen aus der Aids-Prävention. Spätestens seit März 2020 und im Folgenden auch durch das Public Health Kompetenznetzwerk Covid-19 wurden entsprechende Vorschläge sowohl dem Krisenstab im BMG als auch der Leitung der BZgA unterbreitet – diese Expertise war offensichtlich nicht gefragt. Wahrscheinlich wird Deutschland nun nach einem ziemlich lauten und konfliktreichen Slalom zwischen Inzidenzwerten, Teststrategien und Impfraten im Herbst 2021 Corona als ein die Zivilisation bedrohendes Gesundheitsproblem überwunden haben.

Für New Public Health wird das einen schalen Geschmack hinterlassen: Die Tatsache, dass Konzepte dieses Fachs praktisch nicht zum Einsatz kamen, verweist auf den geringen Stellenwert im Reigen der gesundheitswissenschaftlichen Disziplinen. In der Kommunikation über Corona waren und sind die Virologie und die Impfung dominant. Dies wird erneut die empirisch falsche und gesundheitspolitisch oft blockierende Vorstellung festigen, nach der Gesundheit in erster Linie eine Sache der Medizin ist. Vor allem aber hat die Unterlassung moderner Formen der Verhaltensprävention zu vielen vermeidbaren Infektionen und auch politischen Verwirrungen geführt.

Der Beitrag ist zuerst erschienen in der Zeitschrift impu!se für Gesundheitsförderung.

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Portrait von Rolf Rosenbrock

Rolf Rosenbrock

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock ist Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes.

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