Die vorgezogene Bundestagswahl ist vorbei. Unser Hauptgeschäftsführer Dr. Joachim Rock gibt eine Einschätzung der Lage und erklärt, was eine zukünftige Bundesregierung tun muss.

Deutschland hat gewählt. Das politische Koordinatensystem hat sich mit den Erfolgen der mindestens in Teilen gesichert rechtsextremen AfD, die ihren Stimmenanteil verdoppelte, weit nach rechts verschoben. Damit kann, damit darf sich niemand abfinden. Die Verteilung der 630 Sitze im Bundestag lässt aller Voraussicht nach nur eine einzige Regierungskoalition zu: die „Große Koalition“ aus CDU, CSU und SPD, deren Mehrheit alles andere als groß wäre und lediglich über zwölf Sitze verfügt. Die Grünen und die Linke gehen unter denkbar unterschiedlichen Vorzeichen in die neue Legislaturperiode ein, während FDP und BSW mehr oder weniger knapp am Einzug in den Bundestag gescheitert sind. Das Wahlergebnis ist für alle Beteiligten eine denkbar große Herausforderung.

Wir brauchen schnell eine stabile Regierungskoalition

Über allem muss nun stehen, dass die politische Debatte unter den Demokrat*innen entgiftet und der respektvolle Dialog mit- und untereinander wieder zur Regel wird. Gegenseitige Feindmarkierungen haben die politische Debatte in den vergangenen Monaten vergiftet. Das hat nur einer Partei genutzt und allen demokratischen Parteien geschadet. Angesichts der drängenden inneren und äußeren Herausforderungen muss eine neue Regierung grundlegende soziale Herausforderungen bewältigen. Zu den drängendsten Verpflichtungen gehört dabei, einen Bundeshaushalt für das laufende Jahr zu verabschieden, der den gewachsenen sozialen Herausforderungen Rechnung trägt und den Investitionsstau am sozialen Bereich auflösen hilft.

Der abgewählten Regierungskoalition ist in der Vergangenheit unter schwierigsten Rahmenbedingungen einiges gelungen, doch spätestens mit den eingeschränkten finanziellen Handlungsmöglichkeiten nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil 2023 erodierten die verbliebenen gemeinsamen Grundlagen, die das zunehmend brüchigere Koalitionsgebäude zusammenhielten. Eine neue Bundesregierung ist aufgefordert, bei allen Gegensätzen schnell zusammenzufinden. Das vorliegende Wahlergebnis spiegelt ein gewachsenes Maß an Unsicherheit, sozial- und sicherheitspolitisch. Ohne ein Lösen der an recht willkürlich gesetzten Werten orientierten Schuldenbremse im Rahmen des Grundgesetzes ist das nicht zu leisten. Dafür gibt es eine bereite Mehrheit in Deutschland, die von den großen Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften über Umweltschutzverbände bis hin zu den Sozial- und Wohlfahrtsverbänden reicht. Die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit erfordert die Zustimmung aller demokratischen Fraktionen in Bundestag. Dieser Schritt ist die Voraussetzung für die Bewältigung anstehender Herausforderungen, ein Allheilmittel ist sie nicht.

Das Soziale muss wieder in den Mittelpunkt

Wichtige Zukunftsthemen spielten im Wahlkampf nahezu keine Rolle. Wie der notwendige ökologische Umbau sozial gerecht gestaltet werden kann blieb ebenso ein Randthema wie die Sicherung und der notwendige Ausbau der Sozial-, Gesundheits- und Pflegedienstleistungen, eine verstärkte Förderung der Kindertagesbetreuung, die Förderung von Integration und Inklusion und die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine bunte und vielfältige Gesellschaft. Deutschland ist nicht nur mit Blick auf die Vermögensverteilung eines der ungleichsten Länder Europas. Die Bundestagswahl zeigt: aus wachsenden sozialen Spaltungen erwachsene politische Spaltungen. Die Armut von Familien und Kindern stagniert auf hohem Niveau, Alters- und Wohnarmut wachsen, Abstiegsängste reichen bis tief die Mittelschicht. Es wird viel verteilt, aber wenig umverteilt. Doch das ist keine schicksalhafte Entwicklung, im Gegenteil. Jetzt ist die Zeit für einen neuen Gesellschaftsvertrag gekommen, der der Wiedergewinnung sozialer Sicherheit gewidmet und dabei solidarisch finanziert ist.

Die vergangenen Wochen und die Ergebnisse der Bundestagswahl enthalten aber auch ermutigendes. Einmal mehr hat sich gezeigt, dass Engagement erfolgreich sein kann und alle Stimmen zählen. Der Paritätische hat sich intensiv für ein Gewalthilfegesetz eingesetzt, das auf den letzten Metern der Legislatur eine parteiübergreifende zusammengesetzte Mehrheit erhalten hat. Auch wenn die Umsetzungsfrist weit gestreckt ist, ist das ein großer Erfolg, denn die Zahl der Frauenhausplätze wird sich damit in etwa verdreifachen. Das war und ist dringend notwendig.

Eine deutlich gestiegene Wahlbeteiligung

Das noch Ende Januar angesichts von Umfragen von drei bis vier Prozent kaum vorhergesehene Wahlergebnis der Linken, die sich als einzige Partei konsequent auf soziale Themen konzentriert hat, zeigt, dass soziale Themen zählen und bei den Wähler*innen hoch im Kurs stehen: Bezahlbares Wohnen, eine gut ausgebaute, gemeinnützige soziale Infrastruktur, gute Pflege, faire Löhne und sichere Renten bewegen die Menschen und müssen endlich wieder in den Vordergrund gerückte werden. Die Wahlen haben auch gezeigt, dass die sozialen Netzwerke nur eine Form der Einflussnahme sind und die vielleicht wirkmächtigste Form das Gespräch bleibt, ob am Stand oder an der Haustür. Sie haben auch gezeigt, dass die AFD alles andere als unüberwindbar ist.

Mit annähernd 83 Prozent der Bevölkerung haben sich mehr Menschen an der Bundestagswahl beteiligt, als in mehr als drei Jahrzehnten zuvor. Das ist eine gute Nachricht, denn dahinter steht die Überzeugung der Bürgerinnen und Bürger, dass Wahlen Schlüssel zur Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind. Das gilt es zu nutzen, für die Bewahrung und den Ausbau guter Rahmenbedingungen für Vielfalt und sozialen Zusammenhalt. Dafür werden wir uns auf allen Ebenen stark machen. Es gibt viel zu verändern, wir gehen es an!

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Portrait von Dr. Joachim Rock

Dr. Joachim Rock

Dr. Joachim Rock ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands.

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