Bürokratieabbau, Altenheimstrukturgesetz und trägerübergreifende Zusammenarbeit. Sebastian Wegner, Geschäftsführer des Volkssolidarität-Bundesverbandes, hat viele sehr konkrete Vorschläge für die Stärkung von gemeinnützigen Einrichtungen. Wer außerdem Lust auf ein paar wirklich beeindruckende Zahlen eines Verbandes hat, der seine partizipative Weiterentwicklung unter Mitwirkung seiner Mitglieder im Fokus hat, sollte an dieser Stelle weiterlesen.

Seit fast 80 Jahren ist die Volkssolidarität aktiv. Der Sozial- und Wohlfahrtsverband war mit organisierten Mahlzeiten, Pflege und Reisen einer der größten Anbieter von Versorgungsleistungen für ältere Menschen in der DDR. Nach der Wiedervereinigung blieb er als eine der wenigen Massenorganisationen übrig, wurde jedoch neu strukturiert und ging im Paritätischen Wohlfahrtsverband auf. Heute ist die Volkssolidarität aufgrund der historischen Wurzeln in der DDR ausschließlich in den neuen Bundesländern tätig. Denn nach der Wende gab es keine weiteren Expansionen in die alten Bundesländer.

Was macht die gemeinnützige Arbeit der Volkssolidarität besonders?

Die Volkssolidarität ist auf drei Säulen aufgebaut. Die erste Säule bildet der Mitgliederverband, der bei einer Zahl von 200 im Jahr 1999 startete und mittlerweile 108.000 Mitglieder zählt. Als sozialpolitische Interessenvertretung setzen wir uns nicht nur für unsere Mitglieder, sondern auch für unsere Klient*innen und alle Menschen in Not ein. Unsere Bemühungen erstrecken sich über wichtige soziale Themen wie die Bekämpfung von Armut, die Erhöhung des Bürgergelds und die Einführung der Kindergrundsicherung.

Das Drei-Säulen-Modell der Volkssolidarität

Die zweite Säule unserer Arbeit umfasst unsere sozialwirtschaftlichen Aktivitäten, insbesondere in den Bereichen Pflege sowie Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. Täglich kümmern wir uns um rund 30.000 Klient*innen in der Pflege und verteilen monatlich etwa 57.000 Mahlzeiten. Im Bereich der Kindertagesbetreuung, der dritten Säule, bieten wir stolze 47.000 Kitaplätze an. Wir sind stolz darauf, der größte Anbieter im Paritätischen Wohlfahrtsverband zu sein und behaupten sogar, einer der größten Anbieter sozialer Dienstleistungen im gesamten Osten des Landes zu sein, obwohl diese Behauptung noch nicht abschließend validiert wurde. Darüber hinaus leisten wir Eingliederungshilfe und bieten Beratungsangebote an. Unsere Ortsgruppen, die eine einzigartige Struktur aufweisen, leisten ebenfalls wertvolle ehrenamtliche Arbeit vor Ort, auf die wir besonders stolz sind.

Unsere Strukturen sind stark auf Beteiligung ausgerichtet. In der Mitgliederversammlung werden immer Vertreter*innen gewählt, sei es durch Delegierte oder langjährige Engagierte. Diese Personen sind maßgeblich daran beteiligt, die Themen zu definieren, zu bearbeiten und über die Verbandsarbeit zu entscheiden. Der besondere Wert der Volkssolidarität liegt darin, dass die verbandliche Arbeit aus der Basis heraus organisiert wird. Natürlich sind einige Veränderungen im Gange, insbesondere aufgrund unseres stetigen Wachstums im Bereich der sozialwissenschaftlichen Tätigkeiten. Doch der Kern unserer Idee bleibt unverändert: Miteinander - Füreinander.

 

Sebastian Wegner, Geschäftsführer des Volkssolidarität-Bundesverbandes © Mario Zeidler

Wie beziehen Sie denn Betroffene in Ihrer Arbeit mit ein?

Viele der Betroffenen, für die wir tätig sind, sind gleichzeitig Mitglieder unseres Verbands, was ihnen die Möglichkeit gibt, aktiv mitzuwirken und sich kritisch zu äußern. Diese Verantwortung zur Teilnahme am Verbandsleben ist auch in unserer Satzung verankert, was bedeutet, dass wir ständig im Dialog stehen und gemeinsam Veränderungen vorantreiben.

Besonders im Bereich unserer Beratungsangebote und Suchthilfe sind wir eng mit den Menschen verbunden, die wir unterstützen. Wenn Angebote nicht wie gewünscht funktionieren, sei es sozialpolitisch oder in der Praxis, suchen wir nach Lösungen.

Außerdem haben wir das Ehrenamt bereits betont, da es uns ermöglicht, Perspektiven aus der Arbeit vor Ort zu erhalten. Ehrenamtlich Engagierte haben oft einen persönlichen Bezug zu den Bereichen, in denen sie aktiv sind.

Der Bundesverband hat zusätzlich Versuche unternommen, Verbandstreffen mit Landes- und Kreisverbänden zu organisieren. Im letzten Jahr haben wir erstmals Dialogforen durchgeführt, bei denen Vertreterinnen aus dem gesamten Verband, von Delegierten über Ehrenamtliche bis hin zu Geschäftsführerinnen, zusammenkamen, um konkrete Themen zu diskutieren. Die dabei erzielten Ergebnisse flossen in die weitere Verbandsarbeit ein. Sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene setzen wir uns intensiv mit diesen Fragen auseinander, um verbindliche Veränderungen zu initiieren.

Welchen Herausforderungen begegnet die Volkssolidarität als gemeinnütziger Verband aktuell?

Als Verband ist es unser erklärtes Ziel, möglichst viele Menschen für unsere Anliegen zu begeistern und zur Mitgliedschaft zu bewegen. Auf der einen Seite haben wir Mitglieder, die institutionell im Verband organisiert sind und somit alle Rechte gemäß unserer Satzung genießen. Unsere Organisationsstruktur sieht vor, dass die entscheidenden Gremien von Mitgliedern besetzt sind, nicht von Personen, die sich lediglich ehrenamtlich engagieren. Die Mitgliedschaft ist primär ideell geprägt, und der Mitgliedsbeitrag spielt keine wesentliche Rolle. Wir möchten, dass sich die Menschen an den Werten und Zielen orientieren, für die unser Verband steht: ein solidarisches Miteinander und ein antifaschistisches Bündnis, das im Winter 1945 gegründet wurde, um Menschen in Not zu helfen.

Neben unseren institutionalisierten Mitgliedern gibt es jedoch einen breiten Bereich des allgemeinen Engagements. Zum Beispiel bei der Flüchtlingshilfe sind viele Menschen aktiv, die keine direkte Bindung an unseren Verband haben. Hier handelt es sich um Menschen, die unsere Arbeit schätzen und die Gelegenheit nutzen, ihre Fähigkeiten vor Ort einzubringen, ohne unmittelbar an die Mitgliedschaft gebunden zu sein. Auch im Bereich der Pflege erfahren wir viel Unterstützung von Personen, die nicht Teil unserer organisierten Mitgliedschaft sind.

In den letzten Jahren haben wir jedoch Veränderungen im Engagement bemerkt. Die Altersstruktur unserer Mitglieder ist vergleichsweise hoch, und das Interesse konzentriert sich vermehrt auf temporäre Engagements ohne langfristige Verpflichtungen, wie es bei der Flüchtlingshilfe der Fall ist.

Was kann denn zu einer Stärkung von gemeinnützigen Organisationen beitragen?

Als gemeinnützige Organisationen in der Sozialwirtschaft stehen wir vor Herausforderungen im Wettbewerb mit privaten Unternehmen. Um die Zusammenarbeit zwischen gemeinnützigen Trägern zu fördern, sind gesetzliche Anpassungen notwendig. Profitorientierte Ansätze sind oft nicht mit unserer gemeinnützigen Ausrichtung vereinbar und möglicherweise uninteressant für Investoren. Das bedeutet, wir sind bereits im Nachteil, und wenn dieser Trend anhält, bleiben uns als gemeinnützigen Organisationen kaum andere Möglichkeiten, als aus dem Markt auszusteigen oder Kooperationen einzugehen, um weiterhin Dienstleistungen anzubieten.

Gemeinnützige Organisationen bieten oft Dienstleistungen in Bereichen an, in denen private Unternehmen nicht tätig werden. Zum Beispiel im Pflegesektor kann es sein, dass ein gemeinnütziger Pflegedienst eine halbstündige Fahrt auf sich nimmt, um die Versorgung sicherzustellen, während ein privater Anbieter dies aus wirtschaftlichen Gründen möglicherweise nicht tut. Auch hier sind gesetzliche Erleichterungen und die Stärkung gemeinnütziger Organisationen notwendig.

Es bedarf weiter einer Aufwertung der Daseinsvorsorge. In den Kommunen betreiben wir Begegnungseinrichtungen im Ehrenamt, die ausreichend finanziell unterstützt werden müssen, um hauptamtliche Unterstützungsstrukturen und Verwaltungskosten zu bewältigen. Es ist entscheidend, dass die Verantwortung für die Mittel nicht allein bei den Trägern liegt; vielmehr benötigen wir klare, verbindliche Regelungen. Oft sind Träger gezwungen, zu "quersubventionieren", um ihre Dienstleistungen aufrechtzuerhalten. Ein Beispiel hierfür ist Berlin, wo die Kommunen die Strukturen mitfinanzieren.

Die Verbesserung der Daseinsvorsorge muss auch in anderen Bereichen wie der Altenhilfe voranschreiten. Hier setzen wir uns intensiv für ein Altenheimstrukturgesetz ein, besonders angesichts der demografischen Entwicklung unserer Gesellschaft. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, was ein würdevolles Leben im Alter bedeutet und sicherstellen, dass dies nicht nur als "Soll-Leistung" definiert wird. Es geht auch darum, wie ältere Menschen zukünftig an Entscheidungen beteiligt werden können und wo sie Informationen erhalten, um ihre Partizipation zu gewährleisten. In diesem Kontext möchte ich auf Berlin verweisen, da hier bereits bedeutende Fortschritte erzielt wurden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Schaffung von Rahmenbedingungen, um hauptamtliches Personal in der Sozialwirtschaft zu finanzieren. Wenn wir kontinuierliche Strukturen aufbauen und in allen Bereichen gleichbleibende Qualität liefern wollen, benötigen wir Personen, die sich hauptamtlich damit befassen, und dies erfordert eine entsprechende finanzielle Unterstützung. Es braucht einen Abbau bürokratischer Hürden, denn es ist frustrierend, immer nur auf anlassbezogene Förderung angewiesen zu sein, da es viele Träger und Mitarbeitende vor große Unsicherheiten stellt.

Darüber hinaus sollten wir überlegen, wie wir das Ehrenamt zukünftig auch durch digitale Formate erreichen können. Dabei ist jedoch Vorsicht geboten, um nicht einfach Aufgaben ins Ehrenamt zu verlagern und so die Gemeinnützigkeit unangemessen zu belasten.

Abschließend möchte ich betonen, dass wir uns aufgrund der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels verstärkt darauf konzentrieren müssen, über Trägergrenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Hier müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine solche Zusammenarbeit ermöglichen. Es ist absolut akzeptabel, dass sich Träger auf bestimmte Bereiche spezialisieren, aber es ist genauso wichtig, dass sie ihre Leistungen teilen und ergänzen, wo andere stärker sind. Es gibt bereits viel Zusammenarbeit und Trägeraustausch, aber es ist notwendig, genau zu überlegen, wie wir Strukturen gestalten können, um das Miteinander künftig mehr zu stärken als den Wettbewerb zwischen den Trägern.

 


Mit der Kampagne #EchtGut - Vorfahrt für Gemeinnützigkeit, vermittelt der Paritätische Gesamtverband seit Anfang 2021 das Thema Gemeinnützigkeit. Nach zahlreichen Vorträgen, Publikationen und Informationsmaterial, porträtiert der Verband nun in einer Beitragsreihe soziale gemeinnützige Mitgliedsorganisationen. Wie gestalten, leben und zelebrieren die Organisationen ihre Gemeinnützigkeit? Wie zeigen sich gemeinnützige Strukturen in der Zusammenarbeit mit Betroffenen und Ehrenamtlichen und welchen Herausforderungen und Chancen begegnen gemeinwohlorientierte Einrichtungen in der heutigen Zeit?

Hier können Sie den Steckbrief von der Volkssolidarität als PDF herunterladen.

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Autor*in

Portrait von Lilly Oesterreich

Lilly Oesterreich

Lilly Oesterreich ist Projektreferentin für Digitale Kommunikation beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Gesamtverband in Berlin. Sie betreut die Paritätische Mitgliederplattform #WirSindParität.

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